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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die ältere Beurteilung der Einzelberufe. Produktivitätslehre.
ein so feingebildeter Mann wie Erasmus, um von Luther, Hans Sachs, Hutten zu
schweigen, die Kaufleute als die schmutzigste und thörichtste Menschenklasse bezeichnen
konnte. Derartige Übertreibungen und der Übergang der Aufmerksamkeit von den
psychologisch-sittlichen auf die damaligen glänzenden gesellschaftlichen Folgen des Handels
bedingten dann den Umschlag zur merkantilistischen Auffassung: man sah, daß die
Handelsstaaten, die Länder mit starkem innerem Güterumsatz, mit aktivem, direktem
Handel, die Industriewaren ausführenden, seefahrenden, Kolonien erwerbenden Staaten
die reichen waren. Und so kam man zu der Lehre, was Edelmetall ins Land bringe,
also hauptsächlich der Handel, sei allen anderen Thätigkeiten vorzuziehen. Es kam das
Stichwort auf, diese geldschaffende Arbeit sei allein oder vorzugsweise produktiv,
welchem dann die Physiokraten den Satz entgegenstellten, daß nur die Ackerbauer, welche
die brauchbaren Stoffe vermehrten, produktiv, die anderen Gesellschaftsklassen steril seien;
der Handel bringe die Waren nur von einer Hand in die andere, vermehre sie nicht,
sei unproduktiv. Ad. Smith will der Landwirtschaft die größere Produktivität lassen,
nennt aber auch Gewerbe und Handel produktiv. Und die neuere deutsche National-
ökonomie will diesen Ehrentitel dann ebenso für die persönlichen wirtschaftlichen Dienst-
leistungen wie für die liberalen Berufe in Anspruch nehmen, während die materialistische
Demokratie mit Vorliebe bis heute den Satz wiederholt, daß Fürsten und Beamte,
Soldaten und Geistliche unproduktiv seien.

All' diesen schiefen Theoremen lag der Gedanke einer Klassifikation und Rang-
ordnung der arbeitsteiligen Berufe zu Grunde, sowie die Absicht zu beweisen, daß diese
oder jene Berufe vorzugsweise befördert, andere eingeschränkt werden müßten. Weil man
den ganzen Zusammenhang der Arbeitsteilung, die mit ihr verknüpften Institutionen
und Folgen noch nicht übersah, strebte man nach einer einfachen dogmatischen Formel,
die den Schlüssel der Erkenntnis abgeben sollte. Und an das vieldeutige Wort pro-
duktiv knüpfte man nun in wirrer Weise privat- und volkswirtschaftliche, technische,
sittliche und politische Gedankenreihen. Der eine dachte an die Vermehrung des Ver-
kehrs, der andere an die Vermehrung der Warenvorräte, der dritte an die Wertbildung,
der vierte an den privaten, der fünfte an den socialen Nutzen, der sechste an den mora-
lischen Einfluß und die indirekten Wirkungen der verschiedenen Berufe. Es ist klar,
daß von jedem dieser Standpunkte eine andere Rangordnung der arbeitsteiligen Berufe
sich ergiebt.

Der ganze hieran sich knüpfende, noch von Hermann, Roscher und anderen mit
Umständlichkeit vorgetragene Schulstreit kann heute als eine Antiquität der volkswirt-
schaftlichen Dogmatik gelten. Er hatte den Wert, die Aufmerksamkeit auf die Gesamt-
folgen der Arbeitsteilung gegenüber den früheren, ausschließlich in Betracht gezogenen
psychologischen und individuell-moralischen Folgen hinzulenken und zu der Erkenntnis
zu führen, daß die schmälere oder reichlichere Besetzung der einzelnen Berufsgruppen
eine Folge notwendiger historischer Entwickelung der Gesellschaft und der Volks-
wirtschaft sei, daß also eine geographische und historische Vergleichung der Zustände
eintreten müsse, daß dann die Verschiedenheit der Ergebnisse gedeutet werden könne, teils
als Produkt des verschiedenen normalen Entwickelungsgrades, teils als eine Abweichung
hiervon, die besondere Ursachen habe. Solche Resultate können in der Besonderheit der
Zustände, z. B. eines Handelsstaates, liegen, wie in der Hypertrophie ungesunder Bil-
dungen, z. B. eines Übermaßes von Geistlichen, von Zwischenhändlern, von Ackerbauern,
gegenüber dem Bedürfnisse und den Leistungen. Hauptsächlich Roscher hat auf diese
Verhältnismäßigkeit der Besetzung hingewiesen und betont, daß übermäßig viel Diener
und Mönche, wie in Spanien, nicht anormaler erscheinen als ein Ackerbauproletariat
wie das irische, das pro Kopf nur 1/4-- 1/5 dessen erzeuge, was die gleiche Zahl englischer
Landwirte hervorbringe. Dieses Beispiel zeigt zugleich, wie die älteren Versuche, mit
dem Schlagworte der Produktivität die socialen und wirtschaftlichen Gesamtzustände
der Länder abzuthun, das aussichtslose Bestreben enthielten, Technik, Organisation,
wirtschaftliche und ethische Leistung aller Berufszweige aller verschiedenen Länder auf
einen einheitlichen Nenner zu bringen.

Die ältere Beurteilung der Einzelberufe. Produktivitätslehre.
ein ſo feingebildeter Mann wie Erasmus, um von Luther, Hans Sachs, Hutten zu
ſchweigen, die Kaufleute als die ſchmutzigſte und thörichtſte Menſchenklaſſe bezeichnen
konnte. Derartige Übertreibungen und der Übergang der Aufmerkſamkeit von den
pſychologiſch-ſittlichen auf die damaligen glänzenden geſellſchaftlichen Folgen des Handels
bedingten dann den Umſchlag zur merkantiliſtiſchen Auffaſſung: man ſah, daß die
Handelsſtaaten, die Länder mit ſtarkem innerem Güterumſatz, mit aktivem, direktem
Handel, die Induſtriewaren ausführenden, ſeefahrenden, Kolonien erwerbenden Staaten
die reichen waren. Und ſo kam man zu der Lehre, was Edelmetall ins Land bringe,
alſo hauptſächlich der Handel, ſei allen anderen Thätigkeiten vorzuziehen. Es kam das
Stichwort auf, dieſe geldſchaffende Arbeit ſei allein oder vorzugsweiſe produktiv,
welchem dann die Phyſiokraten den Satz entgegenſtellten, daß nur die Ackerbauer, welche
die brauchbaren Stoffe vermehrten, produktiv, die anderen Geſellſchaftsklaſſen ſteril ſeien;
der Handel bringe die Waren nur von einer Hand in die andere, vermehre ſie nicht,
ſei unproduktiv. Ad. Smith will der Landwirtſchaft die größere Produktivität laſſen,
nennt aber auch Gewerbe und Handel produktiv. Und die neuere deutſche National-
ökonomie will dieſen Ehrentitel dann ebenſo für die perſönlichen wirtſchaftlichen Dienſt-
leiſtungen wie für die liberalen Berufe in Anſpruch nehmen, während die materialiſtiſche
Demokratie mit Vorliebe bis heute den Satz wiederholt, daß Fürſten und Beamte,
Soldaten und Geiſtliche unproduktiv ſeien.

All’ dieſen ſchiefen Theoremen lag der Gedanke einer Klaſſifikation und Rang-
ordnung der arbeitsteiligen Berufe zu Grunde, ſowie die Abſicht zu beweiſen, daß dieſe
oder jene Berufe vorzugsweiſe befördert, andere eingeſchränkt werden müßten. Weil man
den ganzen Zuſammenhang der Arbeitsteilung, die mit ihr verknüpften Inſtitutionen
und Folgen noch nicht überſah, ſtrebte man nach einer einfachen dogmatiſchen Formel,
die den Schlüſſel der Erkenntnis abgeben ſollte. Und an das vieldeutige Wort pro-
duktiv knüpfte man nun in wirrer Weiſe privat- und volkswirtſchaftliche, techniſche,
ſittliche und politiſche Gedankenreihen. Der eine dachte an die Vermehrung des Ver-
kehrs, der andere an die Vermehrung der Warenvorräte, der dritte an die Wertbildung,
der vierte an den privaten, der fünfte an den ſocialen Nutzen, der ſechſte an den mora-
liſchen Einfluß und die indirekten Wirkungen der verſchiedenen Berufe. Es iſt klar,
daß von jedem dieſer Standpunkte eine andere Rangordnung der arbeitsteiligen Berufe
ſich ergiebt.

Der ganze hieran ſich knüpfende, noch von Hermann, Roſcher und anderen mit
Umſtändlichkeit vorgetragene Schulſtreit kann heute als eine Antiquität der volkswirt-
ſchaftlichen Dogmatik gelten. Er hatte den Wert, die Aufmerkſamkeit auf die Geſamt-
folgen der Arbeitsteilung gegenüber den früheren, ausſchließlich in Betracht gezogenen
pſychologiſchen und individuell-moraliſchen Folgen hinzulenken und zu der Erkenntnis
zu führen, daß die ſchmälere oder reichlichere Beſetzung der einzelnen Berufsgruppen
eine Folge notwendiger hiſtoriſcher Entwickelung der Geſellſchaft und der Volks-
wirtſchaft ſei, daß alſo eine geographiſche und hiſtoriſche Vergleichung der Zuſtände
eintreten müſſe, daß dann die Verſchiedenheit der Ergebniſſe gedeutet werden könne, teils
als Produkt des verſchiedenen normalen Entwickelungsgrades, teils als eine Abweichung
hiervon, die beſondere Urſachen habe. Solche Reſultate können in der Beſonderheit der
Zuſtände, z. B. eines Handelsſtaates, liegen, wie in der Hypertrophie ungeſunder Bil-
dungen, z. B. eines Übermaßes von Geiſtlichen, von Zwiſchenhändlern, von Ackerbauern,
gegenüber dem Bedürfniſſe und den Leiſtungen. Hauptſächlich Roſcher hat auf dieſe
Verhältnismäßigkeit der Beſetzung hingewieſen und betont, daß übermäßig viel Diener
und Mönche, wie in Spanien, nicht anormaler erſcheinen als ein Ackerbauproletariat
wie das iriſche, das pro Kopf nur ¼—⅕ deſſen erzeuge, was die gleiche Zahl engliſcher
Landwirte hervorbringe. Dieſes Beiſpiel zeigt zugleich, wie die älteren Verſuche, mit
dem Schlagworte der Produktivität die ſocialen und wirtſchaftlichen Geſamtzuſtände
der Länder abzuthun, das ausſichtsloſe Beſtreben enthielten, Technik, Organiſation,
wirtſchaftliche und ethiſche Leiſtung aller Berufszweige aller verſchiedenen Länder auf
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[357/0373] Die ältere Beurteilung der Einzelberufe. Produktivitätslehre. ein ſo feingebildeter Mann wie Erasmus, um von Luther, Hans Sachs, Hutten zu ſchweigen, die Kaufleute als die ſchmutzigſte und thörichtſte Menſchenklaſſe bezeichnen konnte. Derartige Übertreibungen und der Übergang der Aufmerkſamkeit von den pſychologiſch-ſittlichen auf die damaligen glänzenden geſellſchaftlichen Folgen des Handels bedingten dann den Umſchlag zur merkantiliſtiſchen Auffaſſung: man ſah, daß die Handelsſtaaten, die Länder mit ſtarkem innerem Güterumſatz, mit aktivem, direktem Handel, die Induſtriewaren ausführenden, ſeefahrenden, Kolonien erwerbenden Staaten die reichen waren. Und ſo kam man zu der Lehre, was Edelmetall ins Land bringe, alſo hauptſächlich der Handel, ſei allen anderen Thätigkeiten vorzuziehen. Es kam das Stichwort auf, dieſe geldſchaffende Arbeit ſei allein oder vorzugsweiſe produktiv, welchem dann die Phyſiokraten den Satz entgegenſtellten, daß nur die Ackerbauer, welche die brauchbaren Stoffe vermehrten, produktiv, die anderen Geſellſchaftsklaſſen ſteril ſeien; der Handel bringe die Waren nur von einer Hand in die andere, vermehre ſie nicht, ſei unproduktiv. Ad. Smith will der Landwirtſchaft die größere Produktivität laſſen, nennt aber auch Gewerbe und Handel produktiv. Und die neuere deutſche National- ökonomie will dieſen Ehrentitel dann ebenſo für die perſönlichen wirtſchaftlichen Dienſt- leiſtungen wie für die liberalen Berufe in Anſpruch nehmen, während die materialiſtiſche Demokratie mit Vorliebe bis heute den Satz wiederholt, daß Fürſten und Beamte, Soldaten und Geiſtliche unproduktiv ſeien. All’ dieſen ſchiefen Theoremen lag der Gedanke einer Klaſſifikation und Rang- ordnung der arbeitsteiligen Berufe zu Grunde, ſowie die Abſicht zu beweiſen, daß dieſe oder jene Berufe vorzugsweiſe befördert, andere eingeſchränkt werden müßten. Weil man den ganzen Zuſammenhang der Arbeitsteilung, die mit ihr verknüpften Inſtitutionen und Folgen noch nicht überſah, ſtrebte man nach einer einfachen dogmatiſchen Formel, die den Schlüſſel der Erkenntnis abgeben ſollte. Und an das vieldeutige Wort pro- duktiv knüpfte man nun in wirrer Weiſe privat- und volkswirtſchaftliche, techniſche, ſittliche und politiſche Gedankenreihen. Der eine dachte an die Vermehrung des Ver- kehrs, der andere an die Vermehrung der Warenvorräte, der dritte an die Wertbildung, der vierte an den privaten, der fünfte an den ſocialen Nutzen, der ſechſte an den mora- liſchen Einfluß und die indirekten Wirkungen der verſchiedenen Berufe. Es iſt klar, daß von jedem dieſer Standpunkte eine andere Rangordnung der arbeitsteiligen Berufe ſich ergiebt. Der ganze hieran ſich knüpfende, noch von Hermann, Roſcher und anderen mit Umſtändlichkeit vorgetragene Schulſtreit kann heute als eine Antiquität der volkswirt- ſchaftlichen Dogmatik gelten. Er hatte den Wert, die Aufmerkſamkeit auf die Geſamt- folgen der Arbeitsteilung gegenüber den früheren, ausſchließlich in Betracht gezogenen pſychologiſchen und individuell-moraliſchen Folgen hinzulenken und zu der Erkenntnis zu führen, daß die ſchmälere oder reichlichere Beſetzung der einzelnen Berufsgruppen eine Folge notwendiger hiſtoriſcher Entwickelung der Geſellſchaft und der Volks- wirtſchaft ſei, daß alſo eine geographiſche und hiſtoriſche Vergleichung der Zuſtände eintreten müſſe, daß dann die Verſchiedenheit der Ergebniſſe gedeutet werden könne, teils als Produkt des verſchiedenen normalen Entwickelungsgrades, teils als eine Abweichung hiervon, die beſondere Urſachen habe. Solche Reſultate können in der Beſonderheit der Zuſtände, z. B. eines Handelsſtaates, liegen, wie in der Hypertrophie ungeſunder Bil- dungen, z. B. eines Übermaßes von Geiſtlichen, von Zwiſchenhändlern, von Ackerbauern, gegenüber dem Bedürfniſſe und den Leiſtungen. Hauptſächlich Roſcher hat auf dieſe Verhältnismäßigkeit der Beſetzung hingewieſen und betont, daß übermäßig viel Diener und Mönche, wie in Spanien, nicht anormaler erſcheinen als ein Ackerbauproletariat wie das iriſche, das pro Kopf nur ¼—⅕ deſſen erzeuge, was die gleiche Zahl engliſcher Landwirte hervorbringe. Dieſes Beiſpiel zeigt zugleich, wie die älteren Verſuche, mit dem Schlagworte der Produktivität die ſocialen und wirtſchaftlichen Geſamtzuſtände der Länder abzuthun, das ausſichtsloſe Beſtreben enthielten, Technik, Organiſation, wirtſchaftliche und ethiſche Leiſtung aller Berufszweige aller verſchiedenen Länder auf einen einheitlichen Nenner zu bringen.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/373>, abgerufen am 22.11.2024.