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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Der Selbsterhaltungs-, Geschlechts- und Thätigkeitstrieb.
lischen Seite nichts ist als die unwillkürliche lautliche Entladung gewisser Nerven- und
Muskelkräfte. Der Thätigkeitstrieb nötigt uns aber nicht bloß Muskeln und Nerven
zu beschäftigen, unter dem Einfluß ordnender, mit dem Zweckleben sich ergebender Vor-
stellungen und Lustgefühle will er sie sachgemäß beschäftigen, er will die Kräfte üben,
die Grenzen der eigenen Macht erproben; er geht so dem erwachenden Selbstgefühl
parallel; ursprünglich ein Ergebnis rein animalischen Daseins nimmt er alle höheren
menschlichen Zwecke, sofern wir unsere Kraft an ihnen versuchen, in sich auf; die ihm
eigentümlichen Luft- und Schmerzgefühle verbinden sich auf jeder Kulturstufe mit Gefühlen
höherer Ordnung.

Äußert er sich beim Kannibalen nur in der Befriedigung, einen Feind getötet oder
skalpiert zu haben, beim rohen Jäger in der Spannung und dem Genuß, welchen die
Erlegung des Elchs und des Hirsches gewähren, so werden die Ziele desselben beim
Kulturmenschen unendlich mannigfaltige, die Lust aber bleibt immer dieselbe. Es ist
die Freude, die eigene Kraft richtig eingesetzt und verwertet zu haben. Wir beobachten
den Trieb schon beim Kinde, das mit Bauklötzchen ein Haus baut, das sägen und leimen,
pappen und malen will, das in tausenderlei Formen die kleine Welt der Hauswirtschaft
wie die große der Technik in seinen Spielereien nachahmt und entzückt in die Händchen
schlägt, wenn ihm die kleinen Kraft- und Kunstproben gelungen sind. Und was der
Jugend das Spiel, ist dem Alter die Wirklichkeit. Den Schmied, welchem der rechte
Schlag mit dem Hammer gelungen ist, die Köchin, welche den duftenden Sonntagsbraten
anrichtet, den Maler, welcher vor dem fertigen Bilde den Pinsel weglegt, den Maschinen-
fabrikanten, der die tausendste Lokomotive auf die Ausstellung schickt, durchglüht dasselbe
Innervationsgefühl gelungener eigener Thätigkeit wie den hungernden Prediger, welcher
mit dem Bewußtsein von der Kanzel steigt, wieder einmal als Wecker der Gewissen die
Herzen und Nieren seiner Gemeindeglieder erschüttert zu haben. Es giebt keine größere
Freude für den Menschen als die Lust thätigen Schaffens und Wirkens, und sie ist
bis auf einen gewissen Grad unabhängig von dem ökonomischen Erfolg, der Bezahlung
des Produktes, dem Lohn oder Gehalt. Millionen von Menschen arbeiten in der Familie
und in Staat und Kirche ohne direkte Bezahlung, bei anderen Millionen ist Belohnung
und Arbeit nicht in so nahe Beziehung und oft nicht so in Proportion gebracht, daß
die Belohnung das allein ausschlaggebende Motiv wäre. Aber sie arbeiten um des
Erfolges willen. Ihr Vorstellungsvermögen und ihre Nervenerregung läßt ihnen keine
Ruhe, es treibt sie unwiderstehlich zur Thätigkeit; die wesentlichsten wirtschaftlichen
Tugenden, die Ausdauer, der Mut des kühnen Unternehmers, die frische Erfindungsgabe
des Zeichners und Modelleurs entspringen hier. Der reiche Mann will noch mehr
gewinnen, nicht so sehr weil ihn der Mehrbesitz als weil ihn das Kraftgefühl der Erwerbs-
fähigkeit erfreut. In diesem Thätigkeitstrieb hat der sittliche Segen der Arbeit seine
natürliche Wurzel. Die Thätigkeit, welche sich ganz in den Gegenstand versenkt, darüber
das eigene Ich und seine Kümmernisse vergißt, ist das einzige, was auf die Dauer für
die Mehrzahl der Menschen jenes harmonische Gleichgewicht zwischen Lust- und Unlust-
gefühlen herstellt, das wir als dauernde Zufriedenheit bezeichnen.

Aus diesem Trieb entspringt nebenbei auch das Selbstgefühl und Selbstbewußt-
sein; freilich nicht aus ihm allein; es ist ein kompliziertes Ergebnis individueller
und gesellschaftlicher Vorgänge; die Anerkennung in der Gesellschaft stärkt es, wie das
Bewußtsein des Besitzes, das die Furcht, von der Gnade anderer leben zu müssen, ver-
bannt. Vor allem aber erzeugt das Bewußtsein, auf bestimmtem Gebiet etwas Vollendetes
leisten zu können, die bestimmte Sicherheit des Auftretens, die zu unserem inneren Glück
ebenso notwendig ist wie zu jedem äußeren Erfolg. Und das Kolorit des Selbstgefühls
entsteht durch die bestimmte Art der Arbeit. Der Maschinenarbeiter schlägt mit Leiden-
schaft auf den Tisch, der Schneider streichelt sanft den Freund über Achsel und Arm,
zugleich den Stoff befühlend; der Soldat erinnert an die Feldzüge, die er mitgemacht,
der Kaufmann erzählt von den Spekulationen, die ihm gelungen.

16. Der Anerkennungs- und der Rivalitätstrieb. Gehen wir nach
diesen elementaren Trieben, die in ihrer Wurzel alle an bestimmte physische Lustgefühle

Der Selbſterhaltungs-, Geſchlechts- und Thätigkeitstrieb.
liſchen Seite nichts iſt als die unwillkürliche lautliche Entladung gewiſſer Nerven- und
Muskelkräfte. Der Thätigkeitstrieb nötigt uns aber nicht bloß Muskeln und Nerven
zu beſchäftigen, unter dem Einfluß ordnender, mit dem Zweckleben ſich ergebender Vor-
ſtellungen und Luſtgefühle will er ſie ſachgemäß beſchäftigen, er will die Kräfte üben,
die Grenzen der eigenen Macht erproben; er geht ſo dem erwachenden Selbſtgefühl
parallel; urſprünglich ein Ergebnis rein animaliſchen Daſeins nimmt er alle höheren
menſchlichen Zwecke, ſofern wir unſere Kraft an ihnen verſuchen, in ſich auf; die ihm
eigentümlichen Luft- und Schmerzgefühle verbinden ſich auf jeder Kulturſtufe mit Gefühlen
höherer Ordnung.

Äußert er ſich beim Kannibalen nur in der Befriedigung, einen Feind getötet oder
ſkalpiert zu haben, beim rohen Jäger in der Spannung und dem Genuß, welchen die
Erlegung des Elchs und des Hirſches gewähren, ſo werden die Ziele desſelben beim
Kulturmenſchen unendlich mannigfaltige, die Luſt aber bleibt immer dieſelbe. Es iſt
die Freude, die eigene Kraft richtig eingeſetzt und verwertet zu haben. Wir beobachten
den Trieb ſchon beim Kinde, das mit Bauklötzchen ein Haus baut, das ſägen und leimen,
pappen und malen will, das in tauſenderlei Formen die kleine Welt der Hauswirtſchaft
wie die große der Technik in ſeinen Spielereien nachahmt und entzückt in die Händchen
ſchlägt, wenn ihm die kleinen Kraft- und Kunſtproben gelungen ſind. Und was der
Jugend das Spiel, iſt dem Alter die Wirklichkeit. Den Schmied, welchem der rechte
Schlag mit dem Hammer gelungen iſt, die Köchin, welche den duftenden Sonntagsbraten
anrichtet, den Maler, welcher vor dem fertigen Bilde den Pinſel weglegt, den Maſchinen-
fabrikanten, der die tauſendſte Lokomotive auf die Ausſtellung ſchickt, durchglüht dasſelbe
Innervationsgefühl gelungener eigener Thätigkeit wie den hungernden Prediger, welcher
mit dem Bewußtſein von der Kanzel ſteigt, wieder einmal als Wecker der Gewiſſen die
Herzen und Nieren ſeiner Gemeindeglieder erſchüttert zu haben. Es giebt keine größere
Freude für den Menſchen als die Luſt thätigen Schaffens und Wirkens, und ſie iſt
bis auf einen gewiſſen Grad unabhängig von dem ökonomiſchen Erfolg, der Bezahlung
des Produktes, dem Lohn oder Gehalt. Millionen von Menſchen arbeiten in der Familie
und in Staat und Kirche ohne direkte Bezahlung, bei anderen Millionen iſt Belohnung
und Arbeit nicht in ſo nahe Beziehung und oft nicht ſo in Proportion gebracht, daß
die Belohnung das allein ausſchlaggebende Motiv wäre. Aber ſie arbeiten um des
Erfolges willen. Ihr Vorſtellungsvermögen und ihre Nervenerregung läßt ihnen keine
Ruhe, es treibt ſie unwiderſtehlich zur Thätigkeit; die weſentlichſten wirtſchaftlichen
Tugenden, die Ausdauer, der Mut des kühnen Unternehmers, die friſche Erfindungsgabe
des Zeichners und Modelleurs entſpringen hier. Der reiche Mann will noch mehr
gewinnen, nicht ſo ſehr weil ihn der Mehrbeſitz als weil ihn das Kraftgefühl der Erwerbs-
fähigkeit erfreut. In dieſem Thätigkeitstrieb hat der ſittliche Segen der Arbeit ſeine
natürliche Wurzel. Die Thätigkeit, welche ſich ganz in den Gegenſtand verſenkt, darüber
das eigene Ich und ſeine Kümmerniſſe vergißt, iſt das einzige, was auf die Dauer für
die Mehrzahl der Menſchen jenes harmoniſche Gleichgewicht zwiſchen Luſt- und Unluſt-
gefühlen herſtellt, das wir als dauernde Zufriedenheit bezeichnen.

Aus dieſem Trieb entſpringt nebenbei auch das Selbſtgefühl und Selbſtbewußt-
ſein; freilich nicht aus ihm allein; es iſt ein kompliziertes Ergebnis individueller
und geſellſchaftlicher Vorgänge; die Anerkennung in der Geſellſchaft ſtärkt es, wie das
Bewußtſein des Beſitzes, das die Furcht, von der Gnade anderer leben zu müſſen, ver-
bannt. Vor allem aber erzeugt das Bewußtſein, auf beſtimmtem Gebiet etwas Vollendetes
leiſten zu können, die beſtimmte Sicherheit des Auftretens, die zu unſerem inneren Glück
ebenſo notwendig iſt wie zu jedem äußeren Erfolg. Und das Kolorit des Selbſtgefühls
entſteht durch die beſtimmte Art der Arbeit. Der Maſchinenarbeiter ſchlägt mit Leiden-
ſchaft auf den Tiſch, der Schneider ſtreichelt ſanft den Freund über Achſel und Arm,
zugleich den Stoff befühlend; der Soldat erinnert an die Feldzüge, die er mitgemacht,
der Kaufmann erzählt von den Spekulationen, die ihm gelungen.

16. Der Anerkennungs- und der Rivalitätstrieb. Gehen wir nach
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[29/0045] Der Selbſterhaltungs-, Geſchlechts- und Thätigkeitstrieb. liſchen Seite nichts iſt als die unwillkürliche lautliche Entladung gewiſſer Nerven- und Muskelkräfte. Der Thätigkeitstrieb nötigt uns aber nicht bloß Muskeln und Nerven zu beſchäftigen, unter dem Einfluß ordnender, mit dem Zweckleben ſich ergebender Vor- ſtellungen und Luſtgefühle will er ſie ſachgemäß beſchäftigen, er will die Kräfte üben, die Grenzen der eigenen Macht erproben; er geht ſo dem erwachenden Selbſtgefühl parallel; urſprünglich ein Ergebnis rein animaliſchen Daſeins nimmt er alle höheren menſchlichen Zwecke, ſofern wir unſere Kraft an ihnen verſuchen, in ſich auf; die ihm eigentümlichen Luft- und Schmerzgefühle verbinden ſich auf jeder Kulturſtufe mit Gefühlen höherer Ordnung. Äußert er ſich beim Kannibalen nur in der Befriedigung, einen Feind getötet oder ſkalpiert zu haben, beim rohen Jäger in der Spannung und dem Genuß, welchen die Erlegung des Elchs und des Hirſches gewähren, ſo werden die Ziele desſelben beim Kulturmenſchen unendlich mannigfaltige, die Luſt aber bleibt immer dieſelbe. Es iſt die Freude, die eigene Kraft richtig eingeſetzt und verwertet zu haben. Wir beobachten den Trieb ſchon beim Kinde, das mit Bauklötzchen ein Haus baut, das ſägen und leimen, pappen und malen will, das in tauſenderlei Formen die kleine Welt der Hauswirtſchaft wie die große der Technik in ſeinen Spielereien nachahmt und entzückt in die Händchen ſchlägt, wenn ihm die kleinen Kraft- und Kunſtproben gelungen ſind. Und was der Jugend das Spiel, iſt dem Alter die Wirklichkeit. Den Schmied, welchem der rechte Schlag mit dem Hammer gelungen iſt, die Köchin, welche den duftenden Sonntagsbraten anrichtet, den Maler, welcher vor dem fertigen Bilde den Pinſel weglegt, den Maſchinen- fabrikanten, der die tauſendſte Lokomotive auf die Ausſtellung ſchickt, durchglüht dasſelbe Innervationsgefühl gelungener eigener Thätigkeit wie den hungernden Prediger, welcher mit dem Bewußtſein von der Kanzel ſteigt, wieder einmal als Wecker der Gewiſſen die Herzen und Nieren ſeiner Gemeindeglieder erſchüttert zu haben. Es giebt keine größere Freude für den Menſchen als die Luſt thätigen Schaffens und Wirkens, und ſie iſt bis auf einen gewiſſen Grad unabhängig von dem ökonomiſchen Erfolg, der Bezahlung des Produktes, dem Lohn oder Gehalt. Millionen von Menſchen arbeiten in der Familie und in Staat und Kirche ohne direkte Bezahlung, bei anderen Millionen iſt Belohnung und Arbeit nicht in ſo nahe Beziehung und oft nicht ſo in Proportion gebracht, daß die Belohnung das allein ausſchlaggebende Motiv wäre. Aber ſie arbeiten um des Erfolges willen. Ihr Vorſtellungsvermögen und ihre Nervenerregung läßt ihnen keine Ruhe, es treibt ſie unwiderſtehlich zur Thätigkeit; die weſentlichſten wirtſchaftlichen Tugenden, die Ausdauer, der Mut des kühnen Unternehmers, die friſche Erfindungsgabe des Zeichners und Modelleurs entſpringen hier. Der reiche Mann will noch mehr gewinnen, nicht ſo ſehr weil ihn der Mehrbeſitz als weil ihn das Kraftgefühl der Erwerbs- fähigkeit erfreut. In dieſem Thätigkeitstrieb hat der ſittliche Segen der Arbeit ſeine natürliche Wurzel. Die Thätigkeit, welche ſich ganz in den Gegenſtand verſenkt, darüber das eigene Ich und ſeine Kümmerniſſe vergißt, iſt das einzige, was auf die Dauer für die Mehrzahl der Menſchen jenes harmoniſche Gleichgewicht zwiſchen Luſt- und Unluſt- gefühlen herſtellt, das wir als dauernde Zufriedenheit bezeichnen. Aus dieſem Trieb entſpringt nebenbei auch das Selbſtgefühl und Selbſtbewußt- ſein; freilich nicht aus ihm allein; es iſt ein kompliziertes Ergebnis individueller und geſellſchaftlicher Vorgänge; die Anerkennung in der Geſellſchaft ſtärkt es, wie das Bewußtſein des Beſitzes, das die Furcht, von der Gnade anderer leben zu müſſen, ver- bannt. Vor allem aber erzeugt das Bewußtſein, auf beſtimmtem Gebiet etwas Vollendetes leiſten zu können, die beſtimmte Sicherheit des Auftretens, die zu unſerem inneren Glück ebenſo notwendig iſt wie zu jedem äußeren Erfolg. Und das Kolorit des Selbſtgefühls entſteht durch die beſtimmte Art der Arbeit. Der Maſchinenarbeiter ſchlägt mit Leiden- ſchaft auf den Tiſch, der Schneider ſtreichelt ſanft den Freund über Achſel und Arm, zugleich den Stoff befühlend; der Soldat erinnert an die Feldzüge, die er mitgemacht, der Kaufmann erzählt von den Spekulationen, die ihm gelungen. 16. Der Anerkennungs- und der Rivalitätstrieb. Gehen wir nach dieſen elementaren Trieben, die in ihrer Wurzel alle an beſtimmte phyſiſche Luſtgefühle

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/45>, abgerufen am 21.11.2024.