Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. anknüpfen, zu dem über, was man sonst noch als Trieb zu bezeichnen pflegt, so wirddie Untersuchung sehr viel schwieriger. In gewissem Sinne entspricht auch allen höheren ausgebildeten Gefühlen ein Triebleben: der Mensch hat ästhetische, intellektuelle, moralische, gesellige Triebe. Aber es handelt sich hier um viel kompliziertere Vorgänge, um Nerven- reize, die keineswegs mit gleicher Dringlichkeit den Menschen zu bestimmten Richtungen des Handelns antreiben. Es handelt sich da um ein Handeln, auf das sittliche und andere Vorstellungen und Erfahrungen soviel stärker einwirken als der an sich vor- handene Nervenreiz, sodaß wir hier mit der Annahme eines Triebes viel weniger erklärt haben. Ja an einzelnen Stellen erscheint uns die Annahme eines Triebes nur als Mäntelchen, unsere Unwissenheit zu verdecken. So müssen wir uns entschieden gegen die Annahme eines allgemeinen socialen Triebes erklären, obgleich wir zugeben, daß es auch auf gesellschaftlichem und geselligem Boden Triebreize giebt. Aber diese Triebreize lösen sich uns auf in eine Reihe von Gefühlen, die wir wieder unterscheiden können als Gefühle der Blutsverwandtschaft, der Sprach-, der Kulturgemeinschaft, als Freude der Geselligkeit und was sonst noch dazu gehört. Und deshalb möchten wir das so klar zu Unterscheidende nicht mit einem Sammelnamen bezeichnen, der uns die Unter- schiede zudeckt. Dagegen scheint es uns viel eher berechtigt, von einem allgemeinen Triebe der Kein Mensch kann ohne die Billigung eines gewissen Kreises leben; und je niedriger Wir beherrschen unsere Leidenschaften, weil wir fürchten, sonst ungünstig beurteilt Der Kreis derer, auf die man dabei achtet, deren Anerkennung, Billigung oder Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. anknüpfen, zu dem über, was man ſonſt noch als Trieb zu bezeichnen pflegt, ſo wirddie Unterſuchung ſehr viel ſchwieriger. In gewiſſem Sinne entſpricht auch allen höheren ausgebildeten Gefühlen ein Triebleben: der Menſch hat äſthetiſche, intellektuelle, moraliſche, geſellige Triebe. Aber es handelt ſich hier um viel kompliziertere Vorgänge, um Nerven- reize, die keineswegs mit gleicher Dringlichkeit den Menſchen zu beſtimmten Richtungen des Handelns antreiben. Es handelt ſich da um ein Handeln, auf das ſittliche und andere Vorſtellungen und Erfahrungen ſoviel ſtärker einwirken als der an ſich vor- handene Nervenreiz, ſodaß wir hier mit der Annahme eines Triebes viel weniger erklärt haben. Ja an einzelnen Stellen erſcheint uns die Annahme eines Triebes nur als Mäntelchen, unſere Unwiſſenheit zu verdecken. So müſſen wir uns entſchieden gegen die Annahme eines allgemeinen ſocialen Triebes erklären, obgleich wir zugeben, daß es auch auf geſellſchaftlichem und geſelligem Boden Triebreize giebt. Aber dieſe Triebreize löſen ſich uns auf in eine Reihe von Gefühlen, die wir wieder unterſcheiden können als Gefühle der Blutsverwandtſchaft, der Sprach-, der Kulturgemeinſchaft, als Freude der Geſelligkeit und was ſonſt noch dazu gehört. Und deshalb möchten wir das ſo klar zu Unterſcheidende nicht mit einem Sammelnamen bezeichnen, der uns die Unter- ſchiede zudeckt. Dagegen ſcheint es uns viel eher berechtigt, von einem allgemeinen Triebe der Kein Menſch kann ohne die Billigung eines gewiſſen Kreiſes leben; und je niedriger Wir beherrſchen unſere Leidenſchaften, weil wir fürchten, ſonſt ungünſtig beurteilt Der Kreis derer, auf die man dabei achtet, deren Anerkennung, Billigung oder <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0046" n="30"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> anknüpfen, zu dem über, was man ſonſt noch als Trieb zu bezeichnen pflegt, ſo wird<lb/> die Unterſuchung ſehr viel ſchwieriger. In gewiſſem Sinne entſpricht auch allen höheren<lb/> ausgebildeten Gefühlen ein Triebleben: der Menſch hat äſthetiſche, intellektuelle, moraliſche,<lb/> geſellige Triebe. Aber es handelt ſich hier um viel kompliziertere Vorgänge, um Nerven-<lb/> reize, die keineswegs mit gleicher Dringlichkeit den Menſchen zu beſtimmten Richtungen<lb/> des Handelns antreiben. Es handelt ſich da um ein Handeln, auf das ſittliche und<lb/> andere Vorſtellungen und Erfahrungen ſoviel ſtärker einwirken als der an ſich vor-<lb/> handene Nervenreiz, ſodaß wir hier mit der Annahme eines Triebes viel weniger<lb/> erklärt haben. Ja an einzelnen Stellen erſcheint uns die Annahme eines Triebes nur<lb/> als Mäntelchen, unſere Unwiſſenheit zu verdecken. So müſſen wir uns entſchieden gegen<lb/> die Annahme eines allgemeinen ſocialen Triebes erklären, obgleich wir zugeben, daß es<lb/> auch auf geſellſchaftlichem und geſelligem Boden Triebreize giebt. Aber dieſe Triebreize<lb/> löſen ſich uns auf in eine Reihe von Gefühlen, die wir wieder unterſcheiden können<lb/> als Gefühle der Blutsverwandtſchaft, der Sprach-, der Kulturgemeinſchaft, als Freude<lb/> der Geſelligkeit und was ſonſt noch dazu gehört. Und deshalb möchten wir das ſo<lb/> klar zu Unterſcheidende nicht mit einem Sammelnamen bezeichnen, der uns die Unter-<lb/> ſchiede zudeckt.</p><lb/> <p>Dagegen ſcheint es uns viel eher berechtigt, von einem allgemeinen Triebe der<lb/> Menſchen nach Anerkennung im Kreiſe von ihresgleichen zu ſprechen. Wir haben ſchon<lb/> oben (S. 9, 15—16) darauf hingewieſen, wie ſehr das geiſtige Leben überall nach<lb/> Zuſammenſchluß hindrängt. Ad. Smith leitet aus der ſtets und überall wirkſamen<lb/> Sympathie der Menſchen miteinander alle ſittlichen Urteile und alle geſellſchaftlichen<lb/> Einrichtungen ab.</p><lb/> <p>Kein Menſch kann ohne die Billigung eines gewiſſen Kreiſes leben; und je niedriger<lb/> er ſteht, deſto mehr iſt er in jedem Schritt, den er thut, von dem Urteil ſeiner Um-<lb/> gebung abhängig. Der Menſch ißt und trinkt, er kleidet ſich und richtet ſeine Wohnung<lb/> ſo ein, wie es ſeine Freunde, ſeine Standesgenoſſen für paſſend halten. Jeder fürchtet<lb/> ſich in erſter Linie vor dem, was man von ihm ſagen werde; er fürchtet die Sticheleien,<lb/> er fürchtet, ſich lächerlich zu machen. Viele geben Feſte über ihre Mittel, weil ſie<lb/> fürchten, ſonſt getadelt zu werden. Die arme Witwe ruiniert ſich und ihre Kinder, um<lb/> dem Mann ein anſtändiges Begräbnis zu verſchaffen, d. h. ein ſolches, wie ſie glaubt,<lb/> daß es die Nachbarn erwarten.</p><lb/> <p>Wir beherrſchen unſere Leidenſchaften, weil wir fürchten, ſonſt ungünſtig beurteilt<lb/> zu werden; die Mäßigung, die Selbſtbeherrſchung entſpringt ſo zuerſt weſentlich aus<lb/> Rückſicht auf andere. Mag der einzelne Menſch im Herzen ſich noch ſo ſehr allen anderen<lb/> vorziehen, er darf es, ſagt Ad. Smith in der Theorie der ſittlichen Gefühle, doch nie<lb/> eingeſtehen, ohne ſich verächtlich zu machen, er muß die Anmaßungen des Egoismus zu<lb/> dem herabſtimmen, was andere nachempfinden können. Es giebt keine Lage des Lebens,<lb/> in welcher der Menſch ganz auf Anerkennung der Menſchen verzichten könnte, die er ſelbſt<lb/> achtet und hoch hält.</p><lb/> <p>Der Kreis derer, auf die man dabei achtet, deren Anerkennung, Billigung oder<lb/> Liebe man wünſcht, kann je nach der Kultur, der Geſellſchaft, der Lebenslage, der Hand-<lb/> lung, die in Frage ſteht, ein ſehr verſchiedener ſein. Aber dieſe Anerkennung oder<lb/> Billigung iſt für die Mehrzahl der Menſchen eine Hauptquelle ihres Glückes, ihrer<lb/> Zufriedenheit. Selbſt der Auswurf der Menſchheit kann nicht ohne ſolche Billigung<lb/> leben. Es iſt ohne Zweifel eine der Haupturſachen der größeren Moralität in kleineren<lb/> Orten, wo jeder jeden kennt, daß hier Nachbarn, Freunde, Verwandte von jedem<lb/> die gewöhnlichen Tugenden des ehrbaren Mannes, des guten Familienvaters, des<lb/> ſparſamen Hauswirts fordern. In der großen Stadt, vollends in der Weltſtadt,<lb/> entzieht ſich das Privatleben der allgemeinen Kenntnis. Der ſchneidige Offizier, der<lb/> pünktliche Beamte, der gewandte Commis wird von den Perſonen, die ſein Schickſal<lb/> beſtimmen, nur nach Bruchſtücken ſeines Weſens gekannt und beurteilt. Vollends der<lb/> betrügeriſche Börſenſpieler, der wucheriſche Kreditgeber, der Hehler und der Dieb wiſſen<lb/> ihre Thätigkeit vielen, mit denen ſie in Berührung kommen, zu verbergen, ſind anderer-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [30/0046]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
anknüpfen, zu dem über, was man ſonſt noch als Trieb zu bezeichnen pflegt, ſo wird
die Unterſuchung ſehr viel ſchwieriger. In gewiſſem Sinne entſpricht auch allen höheren
ausgebildeten Gefühlen ein Triebleben: der Menſch hat äſthetiſche, intellektuelle, moraliſche,
geſellige Triebe. Aber es handelt ſich hier um viel kompliziertere Vorgänge, um Nerven-
reize, die keineswegs mit gleicher Dringlichkeit den Menſchen zu beſtimmten Richtungen
des Handelns antreiben. Es handelt ſich da um ein Handeln, auf das ſittliche und
andere Vorſtellungen und Erfahrungen ſoviel ſtärker einwirken als der an ſich vor-
handene Nervenreiz, ſodaß wir hier mit der Annahme eines Triebes viel weniger
erklärt haben. Ja an einzelnen Stellen erſcheint uns die Annahme eines Triebes nur
als Mäntelchen, unſere Unwiſſenheit zu verdecken. So müſſen wir uns entſchieden gegen
die Annahme eines allgemeinen ſocialen Triebes erklären, obgleich wir zugeben, daß es
auch auf geſellſchaftlichem und geſelligem Boden Triebreize giebt. Aber dieſe Triebreize
löſen ſich uns auf in eine Reihe von Gefühlen, die wir wieder unterſcheiden können
als Gefühle der Blutsverwandtſchaft, der Sprach-, der Kulturgemeinſchaft, als Freude
der Geſelligkeit und was ſonſt noch dazu gehört. Und deshalb möchten wir das ſo
klar zu Unterſcheidende nicht mit einem Sammelnamen bezeichnen, der uns die Unter-
ſchiede zudeckt.
Dagegen ſcheint es uns viel eher berechtigt, von einem allgemeinen Triebe der
Menſchen nach Anerkennung im Kreiſe von ihresgleichen zu ſprechen. Wir haben ſchon
oben (S. 9, 15—16) darauf hingewieſen, wie ſehr das geiſtige Leben überall nach
Zuſammenſchluß hindrängt. Ad. Smith leitet aus der ſtets und überall wirkſamen
Sympathie der Menſchen miteinander alle ſittlichen Urteile und alle geſellſchaftlichen
Einrichtungen ab.
Kein Menſch kann ohne die Billigung eines gewiſſen Kreiſes leben; und je niedriger
er ſteht, deſto mehr iſt er in jedem Schritt, den er thut, von dem Urteil ſeiner Um-
gebung abhängig. Der Menſch ißt und trinkt, er kleidet ſich und richtet ſeine Wohnung
ſo ein, wie es ſeine Freunde, ſeine Standesgenoſſen für paſſend halten. Jeder fürchtet
ſich in erſter Linie vor dem, was man von ihm ſagen werde; er fürchtet die Sticheleien,
er fürchtet, ſich lächerlich zu machen. Viele geben Feſte über ihre Mittel, weil ſie
fürchten, ſonſt getadelt zu werden. Die arme Witwe ruiniert ſich und ihre Kinder, um
dem Mann ein anſtändiges Begräbnis zu verſchaffen, d. h. ein ſolches, wie ſie glaubt,
daß es die Nachbarn erwarten.
Wir beherrſchen unſere Leidenſchaften, weil wir fürchten, ſonſt ungünſtig beurteilt
zu werden; die Mäßigung, die Selbſtbeherrſchung entſpringt ſo zuerſt weſentlich aus
Rückſicht auf andere. Mag der einzelne Menſch im Herzen ſich noch ſo ſehr allen anderen
vorziehen, er darf es, ſagt Ad. Smith in der Theorie der ſittlichen Gefühle, doch nie
eingeſtehen, ohne ſich verächtlich zu machen, er muß die Anmaßungen des Egoismus zu
dem herabſtimmen, was andere nachempfinden können. Es giebt keine Lage des Lebens,
in welcher der Menſch ganz auf Anerkennung der Menſchen verzichten könnte, die er ſelbſt
achtet und hoch hält.
Der Kreis derer, auf die man dabei achtet, deren Anerkennung, Billigung oder
Liebe man wünſcht, kann je nach der Kultur, der Geſellſchaft, der Lebenslage, der Hand-
lung, die in Frage ſteht, ein ſehr verſchiedener ſein. Aber dieſe Anerkennung oder
Billigung iſt für die Mehrzahl der Menſchen eine Hauptquelle ihres Glückes, ihrer
Zufriedenheit. Selbſt der Auswurf der Menſchheit kann nicht ohne ſolche Billigung
leben. Es iſt ohne Zweifel eine der Haupturſachen der größeren Moralität in kleineren
Orten, wo jeder jeden kennt, daß hier Nachbarn, Freunde, Verwandte von jedem
die gewöhnlichen Tugenden des ehrbaren Mannes, des guten Familienvaters, des
ſparſamen Hauswirts fordern. In der großen Stadt, vollends in der Weltſtadt,
entzieht ſich das Privatleben der allgemeinen Kenntnis. Der ſchneidige Offizier, der
pünktliche Beamte, der gewandte Commis wird von den Perſonen, die ſein Schickſal
beſtimmen, nur nach Bruchſtücken ſeines Weſens gekannt und beurteilt. Vollends der
betrügeriſche Börſenſpieler, der wucheriſche Kreditgeber, der Hehler und der Dieb wiſſen
ihre Thätigkeit vielen, mit denen ſie in Berührung kommen, zu verbergen, ſind anderer-
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