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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Moral im Verhältnis zu Sitte und Recht.
Teil vom Rechte nicht verlangt werden können. Die Sitte hat in der öffentlichen Mei-
nung, in der Ehre, im Klatsch der Nachbarn, das Recht in der Staatsgewalt, die Moral
hauptsächlich im Gewissen ihren Exekutor. Die Moral ist ein unendlich feineres, ver-
zweigteres Gewebe als Sitte und Recht; aber sie hat keine anderen Mittel, zur Geltung
zu kommen, als Überredung und Überzeugung.

Die jeweilig in einem Volke herrschenden und zu Tage tretenden theoretischen und
praktischen Moralsysteme sind der prägnanteste Ausdruck der in ihm herrschenden sitt-
lichen Kräfte; Sitte und Recht sind nur ein Ausdruck von Teilen derselben, und zwar
oft mehr ein Ausdruck für die Beschaffenheit dieser Kräfte in vergangener Zeit. Niemals
aber können Moral, Sitte und Recht eines Volkes in zu schroffen, zu weiten Gegensatz
untereinander treten, weil alle drei ein Ergebnis der herrschenden sittlichen Gefühle und
Urteile sind. Die Moral beherrscht Sitte und Recht oder sucht sie zu beherrschen; jene
ist das Allgemeine, diese sind das Besondere. Wo die Moral des Volkes eine gesunde ist,
da ist auf eine Besserung von Sitte und Recht auch stets noch zu hoffen. Wo auch die
Moral vergiftet ist, da steht es schlimm. Nur darf man nicht verzagen, wenn in ein-
zelnen Klassen eine einseitige und falsche Klassenmoral sich breit macht, wenn in einzelnen
philosophischen Schriftstellern und Künstlern eine verkehrte Moral zu Tage tritt. Die
freie geistig-sittliche Entwickelung kann nicht ohne solche Symptome, zumal in den Zeiten
großer Gärung und Umbildung, sich vollziehen.

29. Die Bedeutung der Differenzierung von Sitte, Recht und
Moral
. Indem die höheren Kulturvölker diese Scheidung der sittlichen Lebensordnung
in drei Gebiete vollzogen haben, die, unter sich aufs engste verwandt, doch selbständig
nebeneinander stehen, aufeinander wirken, sich korrigieren, verschiedene Teile des gesell-
schaftlichen Lebens verschieden binden und ordnen, haben sie einen der größten Fort-
schritte der Geschichte vollzogen. Nur die Trennung der sittlichen Regeln in Moral,
Sitte und Recht erklärt die moderne Freiheit der Individuen einerseits und die Festig-
keit unserer heutigen Kulturstaaten andererseits. Es ist eine Arbeitsteilung, welche den
Zweck zu verfolgen scheint, einen Teil der socialen Lebensordnung immer fester, härter,
unerbittlicher, einen anderen immer elastischer, freier, entwickelungsfähiger zu machen.

Nur das Recht verbindet sich mit der Macht und dem staatlichen Zwang; es wird
das feste Rückgrat des socialen Körpers; durch die Sicherheit und Kraft seiner Wirkung
allein werden große Staaten und große Wirkungen in ihnen möglich. Bis zur Härte
steigert sich seine Kraft; der einzelne wird unbarmherzig von dieser starren Maschine
auf die Seite geworfen, zermalmt, wenn er widerstrebt und sich mit dem Gange derselben
nicht eins weiß oder sich nicht fügt. Aber dieser ungeheuere Zuwachs an Kraft und Wirk-
samkeit, an einheitlichen Resultaten ist nur möglich durch Beschränkung auf das Wichtigste.
Man hat das Recht ein ethisches Minimum genannt (Jellinek); das ist es, verglichen
mit dem materiellen Umfang der sittlichen Lebensordnung überhaupt; aber es ist
andererseits ein ethisches Maximum, nämlich an Kraft, an Wirksamkeit, an Resultaten.

In der Beschränkung der stets starren Rechtsregeln auf das gesellschaftlich Not-
wendigste liegt die Möglichkeit aller individuellen Entwickelung, aller persönlichen Frei-
heit. Beide fehlen in den älteren Staaten mit ungeschiedenen, unerbittlichen Sitten und
Rechtsregeln. Indem bei höherer Kultur die Sittenregel elastischer, ihre Exekution schwächer
wird, die Moralregel nur noch den Exekutor des eigenen Gewissens hat, entsteht erst
die Möglichkeit vielgestaltiger, eigenartiger Entwickelung, die Möglichkeit, daß neue
Ideen rascher zur Wirksamkeit gelangen, daß die Kritik das Veraltete tadelt, daß Neues
in größerem Umfange versucht wird. Dem Princip der fortschreitenden Entwickelung ist
damit die Bahn eröffnet, und doch ist für die Menge nirgends die Regellosigkeit und
die Willkür statuiert. Es sind nur gewisse Teile der Lebensordnung weicher, bildsamer
gemacht, es sind die Thüren aufgemacht für Ausnahmen und Besonderheiten. Es ist
durch die höhere und feinere Ausbildung von Sitte und Moral eine unendliche Viel-
gestaltigkeit zugelassen, die, für das Recht statuiert, den socialen Körper erdrücken würde.

Auf niedriger Kulturstufe straft und tötet, verbrennt und rädert man die Menschen
wegen verschiedener Ansichten, man peinigt sie bis aufs Blut wegen Übertretung kirch-

Die Moral im Verhältnis zu Sitte und Recht.
Teil vom Rechte nicht verlangt werden können. Die Sitte hat in der öffentlichen Mei-
nung, in der Ehre, im Klatſch der Nachbarn, das Recht in der Staatsgewalt, die Moral
hauptſächlich im Gewiſſen ihren Exekutor. Die Moral iſt ein unendlich feineres, ver-
zweigteres Gewebe als Sitte und Recht; aber ſie hat keine anderen Mittel, zur Geltung
zu kommen, als Überredung und Überzeugung.

Die jeweilig in einem Volke herrſchenden und zu Tage tretenden theoretiſchen und
praktiſchen Moralſyſteme ſind der prägnanteſte Ausdruck der in ihm herrſchenden ſitt-
lichen Kräfte; Sitte und Recht ſind nur ein Ausdruck von Teilen derſelben, und zwar
oft mehr ein Ausdruck für die Beſchaffenheit dieſer Kräfte in vergangener Zeit. Niemals
aber können Moral, Sitte und Recht eines Volkes in zu ſchroffen, zu weiten Gegenſatz
untereinander treten, weil alle drei ein Ergebnis der herrſchenden ſittlichen Gefühle und
Urteile ſind. Die Moral beherrſcht Sitte und Recht oder ſucht ſie zu beherrſchen; jene
iſt das Allgemeine, dieſe ſind das Beſondere. Wo die Moral des Volkes eine geſunde iſt,
da iſt auf eine Beſſerung von Sitte und Recht auch ſtets noch zu hoffen. Wo auch die
Moral vergiftet iſt, da ſteht es ſchlimm. Nur darf man nicht verzagen, wenn in ein-
zelnen Klaſſen eine einſeitige und falſche Klaſſenmoral ſich breit macht, wenn in einzelnen
philoſophiſchen Schriftſtellern und Künſtlern eine verkehrte Moral zu Tage tritt. Die
freie geiſtig-ſittliche Entwickelung kann nicht ohne ſolche Symptome, zumal in den Zeiten
großer Gärung und Umbildung, ſich vollziehen.

29. Die Bedeutung der Differenzierung von Sitte, Recht und
Moral
. Indem die höheren Kulturvölker dieſe Scheidung der ſittlichen Lebensordnung
in drei Gebiete vollzogen haben, die, unter ſich aufs engſte verwandt, doch ſelbſtändig
nebeneinander ſtehen, aufeinander wirken, ſich korrigieren, verſchiedene Teile des geſell-
ſchaftlichen Lebens verſchieden binden und ordnen, haben ſie einen der größten Fort-
ſchritte der Geſchichte vollzogen. Nur die Trennung der ſittlichen Regeln in Moral,
Sitte und Recht erklärt die moderne Freiheit der Individuen einerſeits und die Feſtig-
keit unſerer heutigen Kulturſtaaten andererſeits. Es iſt eine Arbeitsteilung, welche den
Zweck zu verfolgen ſcheint, einen Teil der ſocialen Lebensordnung immer feſter, härter,
unerbittlicher, einen anderen immer elaſtiſcher, freier, entwickelungsfähiger zu machen.

Nur das Recht verbindet ſich mit der Macht und dem ſtaatlichen Zwang; es wird
das feſte Rückgrat des ſocialen Körpers; durch die Sicherheit und Kraft ſeiner Wirkung
allein werden große Staaten und große Wirkungen in ihnen möglich. Bis zur Härte
ſteigert ſich ſeine Kraft; der einzelne wird unbarmherzig von dieſer ſtarren Maſchine
auf die Seite geworfen, zermalmt, wenn er widerſtrebt und ſich mit dem Gange derſelben
nicht eins weiß oder ſich nicht fügt. Aber dieſer ungeheuere Zuwachs an Kraft und Wirk-
ſamkeit, an einheitlichen Reſultaten iſt nur möglich durch Beſchränkung auf das Wichtigſte.
Man hat das Recht ein ethiſches Minimum genannt (Jellinek); das iſt es, verglichen
mit dem materiellen Umfang der ſittlichen Lebensordnung überhaupt; aber es iſt
andererſeits ein ethiſches Maximum, nämlich an Kraft, an Wirkſamkeit, an Reſultaten.

In der Beſchränkung der ſtets ſtarren Rechtsregeln auf das geſellſchaftlich Not-
wendigſte liegt die Möglichkeit aller individuellen Entwickelung, aller perſönlichen Frei-
heit. Beide fehlen in den älteren Staaten mit ungeſchiedenen, unerbittlichen Sitten und
Rechtsregeln. Indem bei höherer Kultur die Sittenregel elaſtiſcher, ihre Exekution ſchwächer
wird, die Moralregel nur noch den Exekutor des eigenen Gewiſſens hat, entſteht erſt
die Möglichkeit vielgeſtaltiger, eigenartiger Entwickelung, die Möglichkeit, daß neue
Ideen raſcher zur Wirkſamkeit gelangen, daß die Kritik das Veraltete tadelt, daß Neues
in größerem Umfange verſucht wird. Dem Princip der fortſchreitenden Entwickelung iſt
damit die Bahn eröffnet, und doch iſt für die Menge nirgends die Regelloſigkeit und
die Willkür ſtatuiert. Es ſind nur gewiſſe Teile der Lebensordnung weicher, bildſamer
gemacht, es ſind die Thüren aufgemacht für Ausnahmen und Beſonderheiten. Es iſt
durch die höhere und feinere Ausbildung von Sitte und Moral eine unendliche Viel-
geſtaltigkeit zugelaſſen, die, für das Recht ſtatuiert, den ſocialen Körper erdrücken würde.

Auf niedriger Kulturſtufe ſtraft und tötet, verbrennt und rädert man die Menſchen
wegen verſchiedener Anſichten, man peinigt ſie bis aufs Blut wegen Übertretung kirch-

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[57/0073] Die Moral im Verhältnis zu Sitte und Recht. Teil vom Rechte nicht verlangt werden können. Die Sitte hat in der öffentlichen Mei- nung, in der Ehre, im Klatſch der Nachbarn, das Recht in der Staatsgewalt, die Moral hauptſächlich im Gewiſſen ihren Exekutor. Die Moral iſt ein unendlich feineres, ver- zweigteres Gewebe als Sitte und Recht; aber ſie hat keine anderen Mittel, zur Geltung zu kommen, als Überredung und Überzeugung. Die jeweilig in einem Volke herrſchenden und zu Tage tretenden theoretiſchen und praktiſchen Moralſyſteme ſind der prägnanteſte Ausdruck der in ihm herrſchenden ſitt- lichen Kräfte; Sitte und Recht ſind nur ein Ausdruck von Teilen derſelben, und zwar oft mehr ein Ausdruck für die Beſchaffenheit dieſer Kräfte in vergangener Zeit. Niemals aber können Moral, Sitte und Recht eines Volkes in zu ſchroffen, zu weiten Gegenſatz untereinander treten, weil alle drei ein Ergebnis der herrſchenden ſittlichen Gefühle und Urteile ſind. Die Moral beherrſcht Sitte und Recht oder ſucht ſie zu beherrſchen; jene iſt das Allgemeine, dieſe ſind das Beſondere. Wo die Moral des Volkes eine geſunde iſt, da iſt auf eine Beſſerung von Sitte und Recht auch ſtets noch zu hoffen. Wo auch die Moral vergiftet iſt, da ſteht es ſchlimm. Nur darf man nicht verzagen, wenn in ein- zelnen Klaſſen eine einſeitige und falſche Klaſſenmoral ſich breit macht, wenn in einzelnen philoſophiſchen Schriftſtellern und Künſtlern eine verkehrte Moral zu Tage tritt. Die freie geiſtig-ſittliche Entwickelung kann nicht ohne ſolche Symptome, zumal in den Zeiten großer Gärung und Umbildung, ſich vollziehen. 29. Die Bedeutung der Differenzierung von Sitte, Recht und Moral. Indem die höheren Kulturvölker dieſe Scheidung der ſittlichen Lebensordnung in drei Gebiete vollzogen haben, die, unter ſich aufs engſte verwandt, doch ſelbſtändig nebeneinander ſtehen, aufeinander wirken, ſich korrigieren, verſchiedene Teile des geſell- ſchaftlichen Lebens verſchieden binden und ordnen, haben ſie einen der größten Fort- ſchritte der Geſchichte vollzogen. Nur die Trennung der ſittlichen Regeln in Moral, Sitte und Recht erklärt die moderne Freiheit der Individuen einerſeits und die Feſtig- keit unſerer heutigen Kulturſtaaten andererſeits. Es iſt eine Arbeitsteilung, welche den Zweck zu verfolgen ſcheint, einen Teil der ſocialen Lebensordnung immer feſter, härter, unerbittlicher, einen anderen immer elaſtiſcher, freier, entwickelungsfähiger zu machen. Nur das Recht verbindet ſich mit der Macht und dem ſtaatlichen Zwang; es wird das feſte Rückgrat des ſocialen Körpers; durch die Sicherheit und Kraft ſeiner Wirkung allein werden große Staaten und große Wirkungen in ihnen möglich. Bis zur Härte ſteigert ſich ſeine Kraft; der einzelne wird unbarmherzig von dieſer ſtarren Maſchine auf die Seite geworfen, zermalmt, wenn er widerſtrebt und ſich mit dem Gange derſelben nicht eins weiß oder ſich nicht fügt. Aber dieſer ungeheuere Zuwachs an Kraft und Wirk- ſamkeit, an einheitlichen Reſultaten iſt nur möglich durch Beſchränkung auf das Wichtigſte. Man hat das Recht ein ethiſches Minimum genannt (Jellinek); das iſt es, verglichen mit dem materiellen Umfang der ſittlichen Lebensordnung überhaupt; aber es iſt andererſeits ein ethiſches Maximum, nämlich an Kraft, an Wirkſamkeit, an Reſultaten. In der Beſchränkung der ſtets ſtarren Rechtsregeln auf das geſellſchaftlich Not- wendigſte liegt die Möglichkeit aller individuellen Entwickelung, aller perſönlichen Frei- heit. Beide fehlen in den älteren Staaten mit ungeſchiedenen, unerbittlichen Sitten und Rechtsregeln. Indem bei höherer Kultur die Sittenregel elaſtiſcher, ihre Exekution ſchwächer wird, die Moralregel nur noch den Exekutor des eigenen Gewiſſens hat, entſteht erſt die Möglichkeit vielgeſtaltiger, eigenartiger Entwickelung, die Möglichkeit, daß neue Ideen raſcher zur Wirkſamkeit gelangen, daß die Kritik das Veraltete tadelt, daß Neues in größerem Umfange verſucht wird. Dem Princip der fortſchreitenden Entwickelung iſt damit die Bahn eröffnet, und doch iſt für die Menge nirgends die Regelloſigkeit und die Willkür ſtatuiert. Es ſind nur gewiſſe Teile der Lebensordnung weicher, bildſamer gemacht, es ſind die Thüren aufgemacht für Ausnahmen und Beſonderheiten. Es iſt durch die höhere und feinere Ausbildung von Sitte und Moral eine unendliche Viel- geſtaltigkeit zugelaſſen, die, für das Recht ſtatuiert, den ſocialen Körper erdrücken würde. Auf niedriger Kulturſtufe ſtraft und tötet, verbrennt und rädert man die Menſchen wegen verſchiedener Anſichten, man peinigt ſie bis aufs Blut wegen Übertretung kirch-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/73>, abgerufen am 24.11.2024.