Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. licher Ritualvorschriften, man straft den, welcher auf den polynesischen Inseln die demFürsten vorbehaltenen Speisen berührt, aufs unerbittlichste. Und derartiges war und ist notwendig, so lange Recht, Moral und Sitte nicht geschieden sind. Erst unsere fest- gefügte staatliche Justiz einerseits, die große geistige Kraft unserer Sitte wie unserer ausgebildeten Religions- und Moralsysteme andererseits haben es gestattet, den Rechts- und Strafapparat von Kirche und innerer Überzeugung so weit zu entfernen, daß wir uns darauf beschränken, nur einzelne ganz besondere Ausschreitungen auf diesen Gebieten durch Preß- und Strafrecht zu verbieten. Nur diese Entwickelung ermöglicht es uns, eine Freiheit der Wissenschaft, der Presse, des häuslichen Lebens, der Geselligkeit, des Konsums, der Wirtschaft zu gestatten, die früher undenkbar war. Damit ist eine Reihe schiefer Vorstellungen widerlegt, die bis in die neuere Zeit Die schiefe Theorie von einer natürlichen Gesellschaft und einer natürlichen Volks- Wir können in einer solchen Auffassung nur eine Summe von Irrtümern und Der historische Entwickelungsprozeß in Bezug auf diese Fragen wird sich weder Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. licher Ritualvorſchriften, man ſtraft den, welcher auf den polyneſiſchen Inſeln die demFürſten vorbehaltenen Speiſen berührt, aufs unerbittlichſte. Und derartiges war und iſt notwendig, ſo lange Recht, Moral und Sitte nicht geſchieden ſind. Erſt unſere feſt- gefügte ſtaatliche Juſtiz einerſeits, die große geiſtige Kraft unſerer Sitte wie unſerer ausgebildeten Religions- und Moralſyſteme andererſeits haben es geſtattet, den Rechts- und Strafapparat von Kirche und innerer Überzeugung ſo weit zu entfernen, daß wir uns darauf beſchränken, nur einzelne ganz beſondere Ausſchreitungen auf dieſen Gebieten durch Preß- und Strafrecht zu verbieten. Nur dieſe Entwickelung ermöglicht es uns, eine Freiheit der Wiſſenſchaft, der Preſſe, des häuslichen Lebens, der Geſelligkeit, des Konſums, der Wirtſchaft zu geſtatten, die früher undenkbar war. Damit iſt eine Reihe ſchiefer Vorſtellungen widerlegt, die bis in die neuere Zeit Die ſchiefe Theorie von einer natürlichen Geſellſchaft und einer natürlichen Volks- Wir können in einer ſolchen Auffaſſung nur eine Summe von Irrtümern und Der hiſtoriſche Entwickelungsprozeß in Bezug auf dieſe Fragen wird ſich weder <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0074" n="58"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> licher Ritualvorſchriften, man ſtraft den, welcher auf den polyneſiſchen Inſeln die dem<lb/> Fürſten vorbehaltenen Speiſen berührt, aufs unerbittlichſte. Und derartiges war und iſt<lb/> notwendig, ſo lange Recht, Moral und Sitte nicht geſchieden ſind. 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Im<lb/> übrigen erſchien das möglichſt freie Spiel dieſer Triebe als das geſellſchaftliche Ideal;<lb/> ſie ſollten ſich in möglichſt freiem Kampfe bethätigen. Daß ſie doch ein glückliches <choice><sic>Geſamt-<lb/> ergcbnis</sic><corr>Geſamt-<lb/> ergebnis</corr></choice> herbeiführen, leitete man aus einer präſtabilierten Harmonie ab. Die unbedingte,<lb/> uneingeſchränkte politiſche, wirtſchaftliche und ſonſtige individuelle Freiheit erſchien als<lb/> der Ausdruck dieſer Lehre. Je unbeſchränkter der Erwerbstrieb walte, deſto geſünder<lb/> ſei die Volkswirtſchaft. Die Satire aller Moral, eine brutale Ellbogenmoral der<lb/> Starken, blieb bei dieſer Auffaſſung vom Sittlichen übrig.</p><lb/> <p>Wir können in einer ſolchen Auffaſſung nur eine Summe von Irrtümern und<lb/> Übertreibungen ſehen, die freilich wohl hiſtoriſch erklärbar ſind. Man hatte 1750—1850,<lb/> in einer Zeit der größten techniſchen, wirtſchaftlichen und ſocialen Umbildungen, vor<lb/> allem das Bedürfnis, veraltete ſittliche Lebensordnungen zu beſeitigen, veraltete Sitten<lb/> und Rechtsinſtitutionen über Bord zu werfen. Man ſah in dieſem Kampfe eine Rückkehr<lb/> zum Natürlichen und Gerechten und mußte dabei dem freien Triebleben zeitweiſe ſehr<lb/> großen Spielraum gönnen. Aber der ganze Umſchwung vollzog ſich doch unter Leitung<lb/> ſittlicher Ideen, neuer Moralſyſteme, und das letzte Reſultat waren überall neue Sitten<lb/> und neue Rechtsinſtitutionen. Die Frage der wirtſchaftlichen und politiſchen Freiheit<lb/> war hier und iſt ſtets nur die Frage der richtigen Grenzregulierung zwiſchen Sitte,<lb/> Recht und Moral. Wenn ich im Krämerladen zuſehe, wie ein armes, altes Mütterchen<lb/> durch ſchlechten, gefärbten Kaffee betrogen wird, während vielleicht die vornehme Dame<lb/> gute Ware zu ſolidem Preiſe erhält, dann frage ich, iſt unſere heutige Moral ſo<lb/> geſunken? iſt die Sitte der anſtändigen Geſchäftsleute durch eine Übermacht der Konkurrenz<lb/> ins Wanken geraten? Ich frage weiter, iſt nicht eine Strafklauſel in einem Lebens-<lb/> mittelfälſchungsgeſetz vorhanden oder zu ſchaffen, die ſolches hindert? iſt es wahr-<lb/> ſcheinlich, daß ſie Beſſerung ſchafft, daß ſie gerecht und allgemein durchgeführt wird?<lb/> Der Vernünftige, der heute für freie Konkurrenz, für Beſeitigung dieſer oder jener<lb/> Rechtsſchranken eintritt, der daraus eine Belebung des Selbſtbewußtſeins, eine Stärkung<lb/> der Selbſtverantwortlichkeit, ſowie aller individuellen Kräfte ableitet, rechtfertigt dies<lb/> in der Regel nicht damit, daß die Willkür, der Egoismus, das ſchrankenloſe Triebleben<lb/> herrſchen ſoll, ſondern damit, daß er nachweiſt, die Moral und die gute Sitte werde<lb/> von ſelbſt vordringen, die Rechtsregel ſei zu ſchablonenhaft, ſchade da und dort, die<lb/> freie Umbildung reiche aus, ſei vorzuziehen, weil die inneren ſittlichen Kräfte genügten.</p><lb/> <p>Der hiſtoriſche Entwickelungsprozeß in Bezug auf dieſe Fragen wird ſich weder<lb/> in dem Schlagwort des älteren Liberalismus zuſammenfaſſen laſſen, die Freiheit erringe<lb/> ſich notwendig ein ſtets zunehmendes Gebiet, noch in die Formel von Laſſalle und<lb/> Rodbertus, alle höhere Kultur ſei fortſchreitende Rechtsregulierung und Einſchränkung<lb/> der perſönlichen Freiheit.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [58/0074]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
licher Ritualvorſchriften, man ſtraft den, welcher auf den polyneſiſchen Inſeln die dem
Fürſten vorbehaltenen Speiſen berührt, aufs unerbittlichſte. Und derartiges war und iſt
notwendig, ſo lange Recht, Moral und Sitte nicht geſchieden ſind. Erſt unſere feſt-
gefügte ſtaatliche Juſtiz einerſeits, die große geiſtige Kraft unſerer Sitte wie unſerer
ausgebildeten Religions- und Moralſyſteme andererſeits haben es geſtattet, den Rechts-
und Strafapparat von Kirche und innerer Überzeugung ſo weit zu entfernen, daß wir
uns darauf beſchränken, nur einzelne ganz beſondere Ausſchreitungen auf dieſen Gebieten
durch Preß- und Strafrecht zu verbieten. Nur dieſe Entwickelung ermöglicht es uns,
eine Freiheit der Wiſſenſchaft, der Preſſe, des häuslichen Lebens, der Geſelligkeit, des
Konſums, der Wirtſchaft zu geſtatten, die früher undenkbar war.
Damit iſt eine Reihe ſchiefer Vorſtellungen widerlegt, die bis in die neuere Zeit
in den Staatswiſſenſchaften, zumal in der Nationalökonomie, ihr Weſen trieben.
Die ſchiefe Theorie von einer natürlichen Geſellſchaft und einer natürlichen Volks-
wirtſchaft, wie ſie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entſtand, beruhte
auf einer Verkennung oder Ignorierung der Thatſache, daß alle unſere Handlungen von
Moral, Sitte und Recht beeinflußt ſind. Man leitete das geſellſchaftliche und wirtſchaft-
liche Leben aus ſog. freien, natürlichen Trieben ab; man nahm an, dieſen ſei nur auf
einigen beſtimmten und beſchränkten Punkten durch das Recht ein Zügel angelegt. Im
übrigen erſchien das möglichſt freie Spiel dieſer Triebe als das geſellſchaftliche Ideal;
ſie ſollten ſich in möglichſt freiem Kampfe bethätigen. Daß ſie doch ein glückliches Geſamt-
ergebnis herbeiführen, leitete man aus einer präſtabilierten Harmonie ab. Die unbedingte,
uneingeſchränkte politiſche, wirtſchaftliche und ſonſtige individuelle Freiheit erſchien als
der Ausdruck dieſer Lehre. Je unbeſchränkter der Erwerbstrieb walte, deſto geſünder
ſei die Volkswirtſchaft. Die Satire aller Moral, eine brutale Ellbogenmoral der
Starken, blieb bei dieſer Auffaſſung vom Sittlichen übrig.
Wir können in einer ſolchen Auffaſſung nur eine Summe von Irrtümern und
Übertreibungen ſehen, die freilich wohl hiſtoriſch erklärbar ſind. Man hatte 1750—1850,
in einer Zeit der größten techniſchen, wirtſchaftlichen und ſocialen Umbildungen, vor
allem das Bedürfnis, veraltete ſittliche Lebensordnungen zu beſeitigen, veraltete Sitten
und Rechtsinſtitutionen über Bord zu werfen. Man ſah in dieſem Kampfe eine Rückkehr
zum Natürlichen und Gerechten und mußte dabei dem freien Triebleben zeitweiſe ſehr
großen Spielraum gönnen. Aber der ganze Umſchwung vollzog ſich doch unter Leitung
ſittlicher Ideen, neuer Moralſyſteme, und das letzte Reſultat waren überall neue Sitten
und neue Rechtsinſtitutionen. Die Frage der wirtſchaftlichen und politiſchen Freiheit
war hier und iſt ſtets nur die Frage der richtigen Grenzregulierung zwiſchen Sitte,
Recht und Moral. Wenn ich im Krämerladen zuſehe, wie ein armes, altes Mütterchen
durch ſchlechten, gefärbten Kaffee betrogen wird, während vielleicht die vornehme Dame
gute Ware zu ſolidem Preiſe erhält, dann frage ich, iſt unſere heutige Moral ſo
geſunken? iſt die Sitte der anſtändigen Geſchäftsleute durch eine Übermacht der Konkurrenz
ins Wanken geraten? Ich frage weiter, iſt nicht eine Strafklauſel in einem Lebens-
mittelfälſchungsgeſetz vorhanden oder zu ſchaffen, die ſolches hindert? iſt es wahr-
ſcheinlich, daß ſie Beſſerung ſchafft, daß ſie gerecht und allgemein durchgeführt wird?
Der Vernünftige, der heute für freie Konkurrenz, für Beſeitigung dieſer oder jener
Rechtsſchranken eintritt, der daraus eine Belebung des Selbſtbewußtſeins, eine Stärkung
der Selbſtverantwortlichkeit, ſowie aller individuellen Kräfte ableitet, rechtfertigt dies
in der Regel nicht damit, daß die Willkür, der Egoismus, das ſchrankenloſe Triebleben
herrſchen ſoll, ſondern damit, daß er nachweiſt, die Moral und die gute Sitte werde
von ſelbſt vordringen, die Rechtsregel ſei zu ſchablonenhaft, ſchade da und dort, die
freie Umbildung reiche aus, ſei vorzuziehen, weil die inneren ſittlichen Kräfte genügten.
Der hiſtoriſche Entwickelungsprozeß in Bezug auf dieſe Fragen wird ſich weder
in dem Schlagwort des älteren Liberalismus zuſammenfaſſen laſſen, die Freiheit erringe
ſich notwendig ein ſtets zunehmendes Gebiet, noch in die Formel von Laſſalle und
Rodbertus, alle höhere Kultur ſei fortſchreitende Rechtsregulierung und Einſchränkung
der perſönlichen Freiheit.
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