Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die Ethisierung der gesellschaftlichen Kämpfe. Die Moralsysteme. für die Völker oftmals die Ausgangspunkte innerer Reform und neuen wirtschaftlichenAufschwunges. -- 33. Die religiösen und philosophischen Moralsysteme. Wir haben a) Jede Religion wie jedes Moralsystem ruht auf einheitlichen Vorstellungen Die Religionen sind stets zugleich Versuche einer Kosmogonie, einer rationalen Die Ethiſierung der geſellſchaftlichen Kämpfe. Die Moralſyſteme. für die Völker oftmals die Ausgangspunkte innerer Reform und neuen wirtſchaftlichenAufſchwunges. — 33. Die religiöſen und philoſophiſchen Moralſyſteme. Wir haben a) Jede Religion wie jedes Moralſyſtem ruht auf einheitlichen Vorſtellungen Die Religionen ſind ſtets zugleich Verſuche einer Kosmogonie, einer rationalen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0085" n="69"/><fw place="top" type="header">Die Ethiſierung der geſellſchaftlichen Kämpfe. Die Moralſyſteme.</fw><lb/> für die Völker oftmals die Ausgangspunkte innerer Reform und neuen wirtſchaftlichen<lb/> Aufſchwunges. —</p><lb/> <p>33. <hi rendition="#g">Die religiöſen und philoſophiſchen Moralſyſteme</hi>. Wir haben<lb/> oben (S. 46—47) die Bedeutung der Religion für die Ausbildung der ſittlichen Urteile<lb/> und Handlungen zu charakteriſieren verſucht und weiterhin (S. 55—56) auf den hiſtoriſch-<lb/> pſychologiſchen Zuſammenhang hingewieſen, in welchem aus Sitte und Recht heraus<lb/> einheitliche Gedankenſyſteme der Moral ſich bildeten. Im Anſchluß an das dort Geſagte<lb/> haben wir hier auf dieſe Syſteme nochmal zurückzukommen. Wir haben einmal den<lb/> geiſtig-methodologiſchen Prozeß kurz zu charakteriſieren, die dieſe Syſteme geſchaffen hat;<lb/> es iſt im ganzen derſelbe, der auch politiſche, ſociale und volkswirtſchaftliche Syſteme<lb/> ſpäter erzeugt hat und immer wieder erzeugt; die volkswirtſchaftlichen Syſteme ſind<lb/> Ableger und Ausläufer der Moralſyſteme, hängen mit ihnen zuſammen; Moral- und<lb/> politiſche Syſteme wirken auf alles praktiſche, alſo auch auf alles volkswirtſchaftliche<lb/> Leben bei höherer Kultur tiefgreifend ein. Wir haben dann kurz auseinander zu ſetzen,<lb/> welche Hauptgattungen von Moralſyſtemen das geiſtige Leben der Kulturvölker erzeugte,<lb/> und wie gewiſſe große praktiſche Lebensideale und Leitideen aus ihnen hervorgingen,<lb/> welcher Natur dieſe verſchiedenen Ideen und Principien ſind; ſie haben in den letzten<lb/> Jahrhunderten eine führende, oft aber auch irreführende Rolle im volkswirtſchaftlichen<lb/> Leben geſpielt. —</p><lb/> <p><hi rendition="#aq">a)</hi> Jede Religion wie jedes Moralſyſtem ruht auf einheitlichen Vorſtellungen<lb/> über Gott und die Welt, über ihr gegenſeitiges Verhältnis, über Natur und Geiſt, über<lb/> Leben und Sterben, über die letzten Zwecke der menſchlichen Exiſtenz. Nach den jeweiligen<lb/> Erkenntniſſen und Kauſalitätsvorſtellungen, nach den pſychologiſchen Anſchauungen und<lb/> ethiſchen Bedürfniſſen muß jedes Syſtem über dieſe Grundfragen zu einem einheitlichen<lb/> Ergebnis kommen, das, dem geiſtig-ſittlichen Niveau der betreffenden Menſchen angepaßt,<lb/> für Tauſende und Millionen überzeugende Kraft hat und oft Jahrhunderte lang behält.<lb/> Wie alles menſchliche Selbſtbewußtſein nur zu ſtande kommt durch Verbindung und<lb/> Konzentrierung alles Wahrgenommenen, Erlebten und Erſtrebten in der Syntheſe des<lb/> einheitlichen Ichs, ſo erzeugt auch in jeder menſchlichen Geſellſchaft der unwiderſtehliche<lb/> geiſtige Zug zur Einheit ein die beſtimmte Geſellſchaft verbindendes, mehr oder weniger<lb/> einheitliches Gedankenſyſtem. Die denkenden Menſchen fühlen ſich erſt glücklich, wenn<lb/> ſie zu einem ſolchen Punkte gekommen ſind, in dem ſie wie in einem Brennpunkte<lb/> alle theoretiſchen und praktiſchen Vorſtellungen zuſammenfaſſen, der ihr Denken wie ihr<lb/> Gewiſſen befriedigt, der mit einer plauſibeln Vorſtellung von der Welt zugleich den<lb/> richtigen Leitſtern für alles Handeln abgiebt. Das geſchieht in den Religions- und<lb/> Moralſyſtemen, wie ſie die Völker und Zeitalter im ganzen einheitlich beherrſchen.</p><lb/> <p>Die Religionen ſind ſtets zugleich Verſuche einer Kosmogonie, einer rationalen<lb/> Erklärung des Seienden, wie ſie Syſteme der praktiſchen Lenkung alles Geſchehenden<lb/> darſtellen. Und wenn die philoſophiſchen Moralſyſteme dann wenigſtens teilweiſe auf<lb/> die Vorſtellung einer göttlichen Offenbarung und eines ſteten Neueingreifens der Gottheit<lb/> verzichten, eine beſtimmte Metaphyſik, eine beſtimmte Vorſtellung von der Welt und<lb/> Weltregierung, vom Leben nach dem Tode, den Zwecken alles Lebens liegt ihnen doch<lb/> ebenſo zu Grunde; ſie ruht auf fortſchreitender Natur- und Geſchichtserkenntnis; aber<lb/> ſie reicht nicht aus, ein abgerundetes Bild der Welt zu geben, wie es nötig iſt, um<lb/> als Hintergrund und Ausgangspunkt eines praktiſch wirkenden einheitlichen Verpflichtungs-<lb/> grundes und Syſtems zu dienen. Jedes Moralſyſtem repräſentiert eine beſtimmte einheit-<lb/> liche Weltanſchauung und ſtellt ein einheitliches Lebensideal auf, das auf Erkenntnis und<lb/> Glauben zugleich beruht; ein Sollen lehrt man, Ideale predigt man wirkſam nur, die Welt<lb/> und die Menſchen überwindet man nur von einem centralen Punkte aus, der das Ganze<lb/> aller Zuſammenhänge erfaſſen will. Der dabei ſtattfindende pſychiſche Prozeß iſt immer<lb/> ein ähnlicher, wie er in Bezug auf alle Religionsbildung und auf alle Herrſchaft<lb/> religiöſer Gefühle ſtattfindet. Es handelt ſich um eine Ergänzung unſerer wirklichen<lb/> Erkenntnis durch ein Hoffen und Glauben. Der menſchliche Geiſt ſucht ſich intuitiv,<lb/> ſynthetiſch, mit der Phantaſie ein Bild von der Welt, von den in ihr herrſchenden<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [69/0085]
Die Ethiſierung der geſellſchaftlichen Kämpfe. Die Moralſyſteme.
für die Völker oftmals die Ausgangspunkte innerer Reform und neuen wirtſchaftlichen
Aufſchwunges. —
33. Die religiöſen und philoſophiſchen Moralſyſteme. Wir haben
oben (S. 46—47) die Bedeutung der Religion für die Ausbildung der ſittlichen Urteile
und Handlungen zu charakteriſieren verſucht und weiterhin (S. 55—56) auf den hiſtoriſch-
pſychologiſchen Zuſammenhang hingewieſen, in welchem aus Sitte und Recht heraus
einheitliche Gedankenſyſteme der Moral ſich bildeten. Im Anſchluß an das dort Geſagte
haben wir hier auf dieſe Syſteme nochmal zurückzukommen. Wir haben einmal den
geiſtig-methodologiſchen Prozeß kurz zu charakteriſieren, die dieſe Syſteme geſchaffen hat;
es iſt im ganzen derſelbe, der auch politiſche, ſociale und volkswirtſchaftliche Syſteme
ſpäter erzeugt hat und immer wieder erzeugt; die volkswirtſchaftlichen Syſteme ſind
Ableger und Ausläufer der Moralſyſteme, hängen mit ihnen zuſammen; Moral- und
politiſche Syſteme wirken auf alles praktiſche, alſo auch auf alles volkswirtſchaftliche
Leben bei höherer Kultur tiefgreifend ein. Wir haben dann kurz auseinander zu ſetzen,
welche Hauptgattungen von Moralſyſtemen das geiſtige Leben der Kulturvölker erzeugte,
und wie gewiſſe große praktiſche Lebensideale und Leitideen aus ihnen hervorgingen,
welcher Natur dieſe verſchiedenen Ideen und Principien ſind; ſie haben in den letzten
Jahrhunderten eine führende, oft aber auch irreführende Rolle im volkswirtſchaftlichen
Leben geſpielt. —
a) Jede Religion wie jedes Moralſyſtem ruht auf einheitlichen Vorſtellungen
über Gott und die Welt, über ihr gegenſeitiges Verhältnis, über Natur und Geiſt, über
Leben und Sterben, über die letzten Zwecke der menſchlichen Exiſtenz. Nach den jeweiligen
Erkenntniſſen und Kauſalitätsvorſtellungen, nach den pſychologiſchen Anſchauungen und
ethiſchen Bedürfniſſen muß jedes Syſtem über dieſe Grundfragen zu einem einheitlichen
Ergebnis kommen, das, dem geiſtig-ſittlichen Niveau der betreffenden Menſchen angepaßt,
für Tauſende und Millionen überzeugende Kraft hat und oft Jahrhunderte lang behält.
Wie alles menſchliche Selbſtbewußtſein nur zu ſtande kommt durch Verbindung und
Konzentrierung alles Wahrgenommenen, Erlebten und Erſtrebten in der Syntheſe des
einheitlichen Ichs, ſo erzeugt auch in jeder menſchlichen Geſellſchaft der unwiderſtehliche
geiſtige Zug zur Einheit ein die beſtimmte Geſellſchaft verbindendes, mehr oder weniger
einheitliches Gedankenſyſtem. Die denkenden Menſchen fühlen ſich erſt glücklich, wenn
ſie zu einem ſolchen Punkte gekommen ſind, in dem ſie wie in einem Brennpunkte
alle theoretiſchen und praktiſchen Vorſtellungen zuſammenfaſſen, der ihr Denken wie ihr
Gewiſſen befriedigt, der mit einer plauſibeln Vorſtellung von der Welt zugleich den
richtigen Leitſtern für alles Handeln abgiebt. Das geſchieht in den Religions- und
Moralſyſtemen, wie ſie die Völker und Zeitalter im ganzen einheitlich beherrſchen.
Die Religionen ſind ſtets zugleich Verſuche einer Kosmogonie, einer rationalen
Erklärung des Seienden, wie ſie Syſteme der praktiſchen Lenkung alles Geſchehenden
darſtellen. Und wenn die philoſophiſchen Moralſyſteme dann wenigſtens teilweiſe auf
die Vorſtellung einer göttlichen Offenbarung und eines ſteten Neueingreifens der Gottheit
verzichten, eine beſtimmte Metaphyſik, eine beſtimmte Vorſtellung von der Welt und
Weltregierung, vom Leben nach dem Tode, den Zwecken alles Lebens liegt ihnen doch
ebenſo zu Grunde; ſie ruht auf fortſchreitender Natur- und Geſchichtserkenntnis; aber
ſie reicht nicht aus, ein abgerundetes Bild der Welt zu geben, wie es nötig iſt, um
als Hintergrund und Ausgangspunkt eines praktiſch wirkenden einheitlichen Verpflichtungs-
grundes und Syſtems zu dienen. Jedes Moralſyſtem repräſentiert eine beſtimmte einheit-
liche Weltanſchauung und ſtellt ein einheitliches Lebensideal auf, das auf Erkenntnis und
Glauben zugleich beruht; ein Sollen lehrt man, Ideale predigt man wirkſam nur, die Welt
und die Menſchen überwindet man nur von einem centralen Punkte aus, der das Ganze
aller Zuſammenhänge erfaſſen will. Der dabei ſtattfindende pſychiſche Prozeß iſt immer
ein ähnlicher, wie er in Bezug auf alle Religionsbildung und auf alle Herrſchaft
religiöſer Gefühle ſtattfindet. Es handelt ſich um eine Ergänzung unſerer wirklichen
Erkenntnis durch ein Hoffen und Glauben. Der menſchliche Geiſt ſucht ſich intuitiv,
ſynthetiſch, mit der Phantaſie ein Bild von der Welt, von den in ihr herrſchenden
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