Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Principien und Ideen, von ihrer Entwickelung, vom Zusammenhang des Einzelschicksalsmit Gott, mit der ganzen Menschheit, mit Staat und Gesellschaft, ein Bild von der Zukunft nach dem Tode zu machen. Und von hier aus versteht er die Welt und sich selbst, seine Aufgaben und seine Pflichten. Der Christ des älteren Mittelalters, der das baldige Herannahen des jüngsten Tages erwartete, in der Abtötung des Leibes die erste Pflicht, in dieser Welt nur das Böse sah, mußte sehr vieles anders beurteilen, sein Handeln anders einrichten als der Materialist, für den es nur ein Diesseits und sinn- liche Freuden giebt. Wer die Anfänge des Menschengeschlechtes in tierartigen Zuständen erblickt und aus ihnen heraus durch die Annahme großer Fortschritte zum Bilde einer nach und nach wachsenden Vervollkommnung der Individuen und der Gesellschaft kommt, muß über die meisten Pflichten und socialen Einrichtungen anders denken, als wer, wie die Kirchenväter, an den Beginn der Geschichte ideale, vollkommene Menschen ohne Sünde, ohne Staat, ohne Eigentum setzt, die nur durch den Sündenfall der Schlechtigkeit ver- fallen sind. Aber auch wo die Gegensätze nicht so groß sind, bleibt immer für den Optimismus und für den Pessimismus, für antike und christliche, idealistische und materialistische Auffassung die Möglichkeit verschiedener Weltanschauung, verschiedener Lebensideale und Moralsysteme, die nun bei den höheren Kulturvölkern nebeneinander bestehen, einander bekämpfen und ablösen. Die Systeme nähern sich einander, je mehr zu ihrem Aufbau eine steigende Summe Die Religions- und Moralsysteme und alle an sie sich anknüpfenden ähnlichen Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Principien und Ideen, von ihrer Entwickelung, vom Zuſammenhang des Einzelſchickſalsmit Gott, mit der ganzen Menſchheit, mit Staat und Geſellſchaft, ein Bild von der Zukunft nach dem Tode zu machen. Und von hier aus verſteht er die Welt und ſich ſelbſt, ſeine Aufgaben und ſeine Pflichten. Der Chriſt des älteren Mittelalters, der das baldige Herannahen des jüngſten Tages erwartete, in der Abtötung des Leibes die erſte Pflicht, in dieſer Welt nur das Böſe ſah, mußte ſehr vieles anders beurteilen, ſein Handeln anders einrichten als der Materialiſt, für den es nur ein Diesſeits und ſinn- liche Freuden giebt. Wer die Anfänge des Menſchengeſchlechtes in tierartigen Zuſtänden erblickt und aus ihnen heraus durch die Annahme großer Fortſchritte zum Bilde einer nach und nach wachſenden Vervollkommnung der Individuen und der Geſellſchaft kommt, muß über die meiſten Pflichten und ſocialen Einrichtungen anders denken, als wer, wie die Kirchenväter, an den Beginn der Geſchichte ideale, vollkommene Menſchen ohne Sünde, ohne Staat, ohne Eigentum ſetzt, die nur durch den Sündenfall der Schlechtigkeit ver- fallen ſind. Aber auch wo die Gegenſätze nicht ſo groß ſind, bleibt immer für den Optimismus und für den Peſſimismus, für antike und chriſtliche, idealiſtiſche und materialiſtiſche Auffaſſung die Möglichkeit verſchiedener Weltanſchauung, verſchiedener Lebensideale und Moralſyſteme, die nun bei den höheren Kulturvölkern nebeneinander beſtehen, einander bekämpfen und ablöſen. Die Syſteme nähern ſich einander, je mehr zu ihrem Aufbau eine ſteigende Summe Die Religions- und Moralſyſteme und alle an ſie ſich anknüpfenden ähnlichen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0086" n="70"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> Principien und Ideen, von ihrer Entwickelung, vom Zuſammenhang des Einzelſchickſals<lb/> mit Gott, mit der ganzen Menſchheit, mit Staat und Geſellſchaft, ein Bild von der<lb/> Zukunft nach dem Tode zu machen. Und von hier aus verſteht er die Welt und ſich<lb/> ſelbſt, ſeine Aufgaben und ſeine Pflichten. Der Chriſt des älteren Mittelalters, der das<lb/> baldige Herannahen des jüngſten Tages erwartete, in der Abtötung des Leibes die erſte<lb/> Pflicht, in dieſer Welt nur das Böſe ſah, mußte ſehr vieles anders beurteilen, ſein<lb/> Handeln anders einrichten als der Materialiſt, für den es nur ein Diesſeits und ſinn-<lb/> liche Freuden giebt. 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So ſteckt in dieſen Syſtemen ſtets ein Stück Hypotheſe und Glauben; es<lb/> handelt ſich um ein teleologiſches Verfahren, das, ausgehend von einem Bilde des<lb/> Ganzen, von ſeinen Zwecken, das einzelne zu begreifen ſucht, durch reflektierende Urteile<lb/> alles Zuſammengehörige unter einen einheitlichen Geſichtspunkt ordnet. Kant hat in<lb/> der Kritik der Urteilskraft uns gezeigt, wie der menſchliche Geiſt notwendig auf ein<lb/> ſolches Verfahren angewieſen ſei, und die Philoſophie hat ſeither anerkannt, daß die<lb/> Teleologie mit Recht als ſymboliſierende Ergänzung in dieſen letzten Fragen der empi-<lb/> riſchen Wiſſenſchaft zur Seite trete. Es handelt ſich um die Verſuche der Ausdeutung<lb/> des Ganzen und ſeiner Zwecke, um ſo die Spannkraft des Willens zu erreichen, ohne die<lb/> nichts Großes zu leiſten, kein Fortſchritt zu machen iſt. Die Vorſtellung, daß die Welt<lb/> überhaupt eine einheitliche ſei, daß es ein einheitliches Stufenreich der Natur und der<lb/> Geſchichte, eine Vervollkommnung gebe, iſt, wie aller Gottesglaube, nur auf dieſem<lb/> Wege entſtanden. Die neuen, zündenden, praktiſchen Syſteme der Religion, der Moral<lb/> und der Politik erwachſen nur ſo; ihre Principien ſind ſtets bis auf einen gewiſſen<lb/> Grad einſeitig, aber ſie wirken weltbewegend; ſie löſen das Alte auf, erſchüttern alles<lb/> Beſtehende, ſind oft revolutionär; aber ſie bauen auch das Neue auf, beherrſchen mit<lb/> ihren Principien die Neugeſtaltung, ſo einſeitig dieſe zunächſt ausfallen möge.</p><lb/> <p>Die Religions- und Moralſyſteme und alle an ſie ſich anknüpfenden ähnlichen<lb/> Syſteme und allgemeinen Theorien des Staates, des Rechtes, der Volkswirtſchaft, der<lb/> Socialpolitik ſind mehr praktiſche Lebensmächte, als Ergebniſſe der ſtrengen Wiſſenſchaft.<lb/> Während es ſtets nur <hi rendition="#g">ein</hi> richtiges, für alle überzeugendes Reſultat im Gebiete empiriſch-<lb/> methodiſcher Forſchung und Erkenntnis geben kann, wird es über die praktiſchen Ideale,<lb/> über Pflicht und zukünftige Entwickelung, über Bevorzugung des einen Lebens- und<lb/> Geſellſchaftszweckes vor dem anderen immer leicht verſchiedene Auffaſſungen und Lehren<lb/> geben. Auch in jenen älteren Tagen, als einheitliche kirchlich-religiöſe Überzeugungen<lb/> ganze Stämme und Völker beherrſchten, fehlten die Zweifel und die abweichenden Mei-<lb/> nungen einzelner nicht. Wo aber die höhere Entwickelung mit ihrer freien Kritik, ihrer<lb/> Litteratur, ihrem Unterricht ein offenes Feld des geiſtigen Kampfes eröffnet hat, da<lb/> müſſen noch viel mehr als früher die verſchiedenen möglichen Weltanſchauungen zu<lb/> entgegengeſetzten, ſich bekämpfenden Syſtemen und Lehrgebäuden führen. Ihr Aufeinander-<lb/> wirken, gefährlich für niedrig ſtehende Völker, bedingt gerade die Fortſchritte der höher<lb/> ſtehenden. Mit ihrer Einſeitigkeit werden die verſchiedenen Syſteme, welche die ver-<lb/> ſchiedenen Seiten des menſchlichen Lebens repräſentieren, periodiſch abwechſelnd die Führer<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [70/0086]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Principien und Ideen, von ihrer Entwickelung, vom Zuſammenhang des Einzelſchickſals
mit Gott, mit der ganzen Menſchheit, mit Staat und Geſellſchaft, ein Bild von der
Zukunft nach dem Tode zu machen. Und von hier aus verſteht er die Welt und ſich
ſelbſt, ſeine Aufgaben und ſeine Pflichten. Der Chriſt des älteren Mittelalters, der das
baldige Herannahen des jüngſten Tages erwartete, in der Abtötung des Leibes die erſte
Pflicht, in dieſer Welt nur das Böſe ſah, mußte ſehr vieles anders beurteilen, ſein
Handeln anders einrichten als der Materialiſt, für den es nur ein Diesſeits und ſinn-
liche Freuden giebt. Wer die Anfänge des Menſchengeſchlechtes in tierartigen Zuſtänden
erblickt und aus ihnen heraus durch die Annahme großer Fortſchritte zum Bilde einer
nach und nach wachſenden Vervollkommnung der Individuen und der Geſellſchaft kommt,
muß über die meiſten Pflichten und ſocialen Einrichtungen anders denken, als wer, wie die
Kirchenväter, an den Beginn der Geſchichte ideale, vollkommene Menſchen ohne Sünde,
ohne Staat, ohne Eigentum ſetzt, die nur durch den Sündenfall der Schlechtigkeit ver-
fallen ſind. Aber auch wo die Gegenſätze nicht ſo groß ſind, bleibt immer für den
Optimismus und für den Peſſimismus, für antike und chriſtliche, idealiſtiſche und
materialiſtiſche Auffaſſung die Möglichkeit verſchiedener Weltanſchauung, verſchiedener
Lebensideale und Moralſyſteme, die nun bei den höheren Kulturvölkern nebeneinander
beſtehen, einander bekämpfen und ablöſen.
Die Syſteme nähern ſich einander, je mehr zu ihrem Aufbau eine ſteigende Summe
feſtſtehender Erfahrungserkenntnis verwendet iſt. Aber dieſe iſt ſtets unvollendet, bruch-
ſtückartig. Und das Weſen der Weltanſchauung, des Moralſyſtems iſt es, ein Ganzes
zu geben. So ſteckt in dieſen Syſtemen ſtets ein Stück Hypotheſe und Glauben; es
handelt ſich um ein teleologiſches Verfahren, das, ausgehend von einem Bilde des
Ganzen, von ſeinen Zwecken, das einzelne zu begreifen ſucht, durch reflektierende Urteile
alles Zuſammengehörige unter einen einheitlichen Geſichtspunkt ordnet. Kant hat in
der Kritik der Urteilskraft uns gezeigt, wie der menſchliche Geiſt notwendig auf ein
ſolches Verfahren angewieſen ſei, und die Philoſophie hat ſeither anerkannt, daß die
Teleologie mit Recht als ſymboliſierende Ergänzung in dieſen letzten Fragen der empi-
riſchen Wiſſenſchaft zur Seite trete. Es handelt ſich um die Verſuche der Ausdeutung
des Ganzen und ſeiner Zwecke, um ſo die Spannkraft des Willens zu erreichen, ohne die
nichts Großes zu leiſten, kein Fortſchritt zu machen iſt. Die Vorſtellung, daß die Welt
überhaupt eine einheitliche ſei, daß es ein einheitliches Stufenreich der Natur und der
Geſchichte, eine Vervollkommnung gebe, iſt, wie aller Gottesglaube, nur auf dieſem
Wege entſtanden. Die neuen, zündenden, praktiſchen Syſteme der Religion, der Moral
und der Politik erwachſen nur ſo; ihre Principien ſind ſtets bis auf einen gewiſſen
Grad einſeitig, aber ſie wirken weltbewegend; ſie löſen das Alte auf, erſchüttern alles
Beſtehende, ſind oft revolutionär; aber ſie bauen auch das Neue auf, beherrſchen mit
ihren Principien die Neugeſtaltung, ſo einſeitig dieſe zunächſt ausfallen möge.
Die Religions- und Moralſyſteme und alle an ſie ſich anknüpfenden ähnlichen
Syſteme und allgemeinen Theorien des Staates, des Rechtes, der Volkswirtſchaft, der
Socialpolitik ſind mehr praktiſche Lebensmächte, als Ergebniſſe der ſtrengen Wiſſenſchaft.
Während es ſtets nur ein richtiges, für alle überzeugendes Reſultat im Gebiete empiriſch-
methodiſcher Forſchung und Erkenntnis geben kann, wird es über die praktiſchen Ideale,
über Pflicht und zukünftige Entwickelung, über Bevorzugung des einen Lebens- und
Geſellſchaftszweckes vor dem anderen immer leicht verſchiedene Auffaſſungen und Lehren
geben. Auch in jenen älteren Tagen, als einheitliche kirchlich-religiöſe Überzeugungen
ganze Stämme und Völker beherrſchten, fehlten die Zweifel und die abweichenden Mei-
nungen einzelner nicht. Wo aber die höhere Entwickelung mit ihrer freien Kritik, ihrer
Litteratur, ihrem Unterricht ein offenes Feld des geiſtigen Kampfes eröffnet hat, da
müſſen noch viel mehr als früher die verſchiedenen möglichen Weltanſchauungen zu
entgegengeſetzten, ſich bekämpfenden Syſtemen und Lehrgebäuden führen. Ihr Aufeinander-
wirken, gefährlich für niedrig ſtehende Völker, bedingt gerade die Fortſchritte der höher
ſtehenden. Mit ihrer Einſeitigkeit werden die verſchiedenen Syſteme, welche die ver-
ſchiedenen Seiten des menſchlichen Lebens repräſentieren, periodiſch abwechſelnd die Führer
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