eine außerordentlich rasch zunehmende Bevölkerung, eine vollständige Verlegung fast aller Standorte der Industrie wie der Landwirthschaft, eine ganz andere Organisation der bei der Produktion zusammenwirkenden Kräfte, total veränderte Klassen- und Besitzverhältnisse, eine ganz andere volkswirthschaftliche Gesetzgebung, alle diese Mo- mente zusammen haben die moderne soziale Frage geschaffen. Einzelne dieser tief eingreifenden Ursachen stehen an sich in engem Zusammenhang, andere fallen gleichsam nur zufällig in dieselbe Zeit. Die Gesammt- wirkung kann keine einfache sein. Viele Errungenschaften der neuen Zeit kommen allen Klassen gleichmäßig zu gute, andere nur einzelnen. Die vollständige Neugestaltung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse, als Folge nicht bloß spezifisch wirthschaftlicher, sondern auch anderer Ursachen hat einzelne Stände, einzelne Klassen in ebenso behagliche, wie andere in traurige ärmliche Lage versetzt. Die Streiflichter, welche unsere Untersuchungen auf die Konsumtion warfen, deuteten an, welch große Zunahme des Verbrauchs in einzelnen Artikeln, welche Stabilität oder gar Abnahme in anderen stattfand, wie ungleich nach den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen sich die Fortschritte des Wohlstandes vertheilen. Da Licht, dort Schatten, da die größten Fortschritte, dort Stabilität und Mißbehagen -- das ist das Bild unserer Zeit. Ein optimistischer "Zivilisationshochmuth" sieht nur, wie herrlich weit wir es gebracht, und es wird sich gar nicht leugnen lassen, daß Großes geschehen und erreicht ist. Nur wird man bei unbefangener Beachtung zugeben, daß wir noch mitten inne in einem Gährungsprozesse stehen,
Die Kriſis des Handwerks.
eine außerordentlich raſch zunehmende Bevölkerung, eine vollſtändige Verlegung faſt aller Standorte der Induſtrie wie der Landwirthſchaft, eine ganz andere Organiſation der bei der Produktion zuſammenwirkenden Kräfte, total veränderte Klaſſen- und Beſitzverhältniſſe, eine ganz andere volkswirthſchaftliche Geſetzgebung, alle dieſe Mo- mente zuſammen haben die moderne ſoziale Frage geſchaffen. Einzelne dieſer tief eingreifenden Urſachen ſtehen an ſich in engem Zuſammenhang, andere fallen gleichſam nur zufällig in dieſelbe Zeit. Die Geſammt- wirkung kann keine einfache ſein. Viele Errungenſchaften der neuen Zeit kommen allen Klaſſen gleichmäßig zu gute, andere nur einzelnen. Die vollſtändige Neugeſtaltung der Vermögens- und Einkommensverhältniſſe, als Folge nicht bloß ſpezifiſch wirthſchaftlicher, ſondern auch anderer Urſachen hat einzelne Stände, einzelne Klaſſen in ebenſo behagliche, wie andere in traurige ärmliche Lage verſetzt. Die Streiflichter, welche unſere Unterſuchungen auf die Konſumtion warfen, deuteten an, welch große Zunahme des Verbrauchs in einzelnen Artikeln, welche Stabilität oder gar Abnahme in anderen ſtattfand, wie ungleich nach den verſchiedenen geſellſchaftlichen Klaſſen ſich die Fortſchritte des Wohlſtandes vertheilen. Da Licht, dort Schatten, da die größten Fortſchritte, dort Stabilität und Mißbehagen — das iſt das Bild unſerer Zeit. Ein optimiſtiſcher „Ziviliſationshochmuth“ ſieht nur, wie herrlich weit wir es gebracht, und es wird ſich gar nicht leugnen laſſen, daß Großes geſchehen und erreicht iſt. Nur wird man bei unbefangener Beachtung zugeben, daß wir noch mitten inne in einem Gährungsprozeſſe ſtehen,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0683"n="661"/><fwplace="top"type="header">Die Kriſis des Handwerks.</fw><lb/>
eine außerordentlich raſch zunehmende Bevölkerung, eine<lb/>
vollſtändige Verlegung faſt aller Standorte der Induſtrie<lb/>
wie der Landwirthſchaft, eine ganz andere Organiſation<lb/>
der bei der Produktion zuſammenwirkenden Kräfte, total<lb/>
veränderte Klaſſen- und Beſitzverhältniſſe, eine ganz<lb/>
andere volkswirthſchaftliche Geſetzgebung, alle dieſe Mo-<lb/>
mente zuſammen haben die moderne ſoziale Frage<lb/>
geſchaffen. Einzelne dieſer tief eingreifenden Urſachen<lb/>ſtehen an ſich in engem Zuſammenhang, andere fallen<lb/>
gleichſam nur zufällig in dieſelbe Zeit. Die Geſammt-<lb/>
wirkung kann keine einfache ſein. Viele Errungenſchaften<lb/>
der neuen Zeit kommen allen Klaſſen gleichmäßig zu gute,<lb/>
andere nur einzelnen. Die vollſtändige Neugeſtaltung der<lb/>
Vermögens- und Einkommensverhältniſſe, als Folge<lb/>
nicht bloß ſpezifiſch wirthſchaftlicher, ſondern auch anderer<lb/>
Urſachen hat einzelne Stände, einzelne Klaſſen in ebenſo<lb/>
behagliche, wie andere in traurige ärmliche Lage verſetzt.<lb/>
Die Streiflichter, welche unſere Unterſuchungen auf die<lb/>
Konſumtion warfen, deuteten an, welch große Zunahme<lb/>
des Verbrauchs in einzelnen Artikeln, welche Stabilität<lb/>
oder gar Abnahme in anderen ſtattfand, wie ungleich<lb/>
nach den verſchiedenen geſellſchaftlichen Klaſſen ſich die<lb/>
Fortſchritte des Wohlſtandes vertheilen. Da Licht, dort<lb/>
Schatten, da die größten Fortſchritte, dort Stabilität<lb/>
und Mißbehagen — das iſt das Bild unſerer Zeit.<lb/>
Ein optimiſtiſcher „Ziviliſationshochmuth“ſieht nur,<lb/>
wie herrlich weit wir es gebracht, und es wird ſich gar<lb/>
nicht leugnen laſſen, daß Großes geſchehen und erreicht<lb/>
iſt. Nur wird man bei unbefangener Beachtung zugeben,<lb/>
daß wir noch mitten inne in einem Gährungsprozeſſe ſtehen,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[661/0683]
Die Kriſis des Handwerks.
eine außerordentlich raſch zunehmende Bevölkerung, eine
vollſtändige Verlegung faſt aller Standorte der Induſtrie
wie der Landwirthſchaft, eine ganz andere Organiſation
der bei der Produktion zuſammenwirkenden Kräfte, total
veränderte Klaſſen- und Beſitzverhältniſſe, eine ganz
andere volkswirthſchaftliche Geſetzgebung, alle dieſe Mo-
mente zuſammen haben die moderne ſoziale Frage
geſchaffen. Einzelne dieſer tief eingreifenden Urſachen
ſtehen an ſich in engem Zuſammenhang, andere fallen
gleichſam nur zufällig in dieſelbe Zeit. Die Geſammt-
wirkung kann keine einfache ſein. Viele Errungenſchaften
der neuen Zeit kommen allen Klaſſen gleichmäßig zu gute,
andere nur einzelnen. Die vollſtändige Neugeſtaltung der
Vermögens- und Einkommensverhältniſſe, als Folge
nicht bloß ſpezifiſch wirthſchaftlicher, ſondern auch anderer
Urſachen hat einzelne Stände, einzelne Klaſſen in ebenſo
behagliche, wie andere in traurige ärmliche Lage verſetzt.
Die Streiflichter, welche unſere Unterſuchungen auf die
Konſumtion warfen, deuteten an, welch große Zunahme
des Verbrauchs in einzelnen Artikeln, welche Stabilität
oder gar Abnahme in anderen ſtattfand, wie ungleich
nach den verſchiedenen geſellſchaftlichen Klaſſen ſich die
Fortſchritte des Wohlſtandes vertheilen. Da Licht, dort
Schatten, da die größten Fortſchritte, dort Stabilität
und Mißbehagen — das iſt das Bild unſerer Zeit.
Ein optimiſtiſcher „Ziviliſationshochmuth“ ſieht nur,
wie herrlich weit wir es gebracht, und es wird ſich gar
nicht leugnen laſſen, daß Großes geſchehen und erreicht
iſt. Nur wird man bei unbefangener Beachtung zugeben,
daß wir noch mitten inne in einem Gährungsprozeſſe ſtehen,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 661. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/683>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.