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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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den Knies hierfür vorschlägt, nicht von Gesetzen der Kausalität, sondern von
solchen der Analogie zu sprechen, scheint mir kein glücklicher. Von gesetz-
mäßiger Entwickelung ähnlicher historischer Reihen können wir wohl spre-
chen, aber nicht von mehr. Wir verzichten natürlich nicht auf die Hoff-
nung, später noch sehr viel weiter zu kommen, als wir heute sind; wir lassen
damit unseren Glauben nicht fahren, daß alles auf der Welt nach Ursachen und
Gesetzen geschehe, noch weniger die Hoffnung, mit unserer Erkenntnis ge-
wisse Wahrscheinlichkeiten künftiger Entwickelungsreihen zu gewinnen.
Was wir hier von der Anwendung des Gesetzesbegriffs auf die zunehmende
Erkenntnis der Entwickelung einzelner Teile und der ganzen Volkswirtschaft
sagen, gilt natürlich noch mehr, wenn wir die Volkswirtschaft und ihre Teil-
gebiete nun als bloße Ausschnitte aus dem Gesamtgebiete des ganzen Volks-,
Gesellschafts- und Staatslebens betrachten, d. h. wenn wir die historische
Entwickelung der Staaten und der Menschheit als ein Ganzes erfassen, wenn
wir den Sinn und den Zusammenhang der Geschichte überhaupt uns klar ma-
chen wollen. Es bedeutet gewiß einen der größesten geistigen Fortschritte,
daß man über die älteren religiösen und metaphysischen Vorstellungen in
bezug auf diese letzten großen Fragen hinauskommen wollte zu realer wis-
senschaftlicher Erkenntnis der Geschichte. Und einzelne Optimisten glauben
ja nun auch auf diesem Gebiete schon zu Gesetzen, zu "historischen Ge-
setzen" gekommen zu sein. Die Frage ist aber, wie weit das möglich sei, ob
das, was heute mannigfach so genannt wird, nicht bloß Versuche auf dem
Wege zu solchen sind, ob hier überhaupt je von Gesetzen in dem Sinne, wie
wir ihn begrenzt haben, zu sprechen sein werde, ob das, was man "Ge-
setze" genannt hat, nicht bloß Begriffsbildungen sind, die wir uns als in einer
historischen Reihe sich folgend denken, oder Urteile und Erfahrungssätze,
deren Grenzen und Verursachungen wir nur ganz unvollkommen kennen.
Es kommt da natürlich auch wesentlich auf den Begriff an, den der einzelne
Gelehrte sich vom Wesen des "Gesetzes" gemacht hat. Wer, wie Lamprecht,
jedes stichhaltige Urteil, das sich auf die Wirklichkeit eines qualitativ bestimm-
ten Gegenstandes -- hier der Geschichte -- bezieht, ein Gesetz nennt, wird ganz
anders urteilen, als der, welcher ein Gesetz nur die Erkenntnis nennt, welche
aus bestimmten Ursachen als solchen, die sich im allgemeinen ergebende Wie-
derkehr wichtiger Erscheinungen ableitet.
Das Untersuchungsgebiet der Geschichte schließt neben der Volkswirtschaft und
ihren Teilen alle Abhängigkeit menschlicher Gesellschaftsentwickelung von
Natur-, Rasse-, biologischen Verhältnissen, alle Entwickelung der Sprache,
der Sitte, des Rechts, der Religion, der gesamten Gesellschaftsverfassung und
der individual- und massenpsychologischen Kräfte in sich, also eine Summe
von halbfertigen, teilweise kaum begonnenen Wissenschaften. Wir müßten
über Vererbung und Degeneration, über die psychischen Ursachen und ihre
Gesetze, über die große Frage des relativen Anteils des Genies und der Massen
an der historischen Gesamtentwickelung und viele andere wissenschaftliche
Fragen nach meiner Ansicht viel weiter sein, wenn wir ernstlich von histo-
rischen Gesetzen sollten sprechen können. Wenn Sigwart betont, alles historische
Urteil komme heute aus dem Schwanken zwischen der überwiegenden Beto-
nung des Individuellen und der einseitigen Abteilung aus den Massenerschei-
nungen nicht heraus, wenn auch Wundt, wie Dilthey, Windelband und seine
den Knies hierfür vorschlägt, nicht von Gesetzen der Kausalität, sondern von
solchen der Analogie zu sprechen, scheint mir kein glücklicher. Von gesetz-
mäßiger Entwickelung ähnlicher historischer Reihen können wir wohl spre-
chen, aber nicht von mehr. Wir verzichten natürlich nicht auf die Hoff-
nung, später noch sehr viel weiter zu kommen, als wir heute sind; wir lassen
damit unseren Glauben nicht fahren, daß alles auf der Welt nach Ursachen und
Gesetzen geschehe, noch weniger die Hoffnung, mit unserer Erkenntnis ge-
wisse Wahrscheinlichkeiten künftiger Entwickelungsreihen zu gewinnen.
Was wir hier von der Anwendung des Gesetzesbegriffs auf die zunehmende
Erkenntnis der Entwickelung einzelner Teile und der ganzen Volkswirtschaft
sagen, gilt natürlich noch mehr, wenn wir die Volkswirtschaft und ihre Teil-
gebiete nun als bloße Ausschnitte aus dem Gesamtgebiete des ganzen Volks-,
Gesellschafts- und Staatslebens betrachten, d. h. wenn wir die historische
Entwickelung der Staaten und der Menschheit als ein Ganzes erfassen, wenn
wir den Sinn und den Zusammenhang der Geschichte überhaupt uns klar ma-
chen wollen. Es bedeutet gewiß einen der größesten geistigen Fortschritte,
daß man über die älteren religiösen und metaphysischen Vorstellungen in
bezug auf diese letzten großen Fragen hinauskommen wollte zu realer wis-
senschaftlicher Erkenntnis der Geschichte. Und einzelne Optimisten glauben
ja nun auch auf diesem Gebiete schon zu Gesetzen, zu „historischen Ge-
setzen“ gekommen zu sein. Die Frage ist aber, wie weit das möglich sei, ob
das, was heute mannigfach so genannt wird, nicht bloß Versuche auf dem
Wege zu solchen sind, ob hier überhaupt je von Gesetzen in dem Sinne, wie
wir ihn begrenzt haben, zu sprechen sein werde, ob das, was man „Ge-
setze“ genannt hat, nicht bloß Begriffsbildungen sind, die wir uns als in einer
historischen Reihe sich folgend denken, oder Urteile und Erfahrungssätze,
deren Grenzen und Verursachungen wir nur ganz unvollkommen kennen.
Es kommt da natürlich auch wesentlich auf den Begriff an, den der einzelne
Gelehrte sich vom Wesen des „Gesetzes“ gemacht hat. Wer, wie Lamprecht,
jedes stichhaltige Urteil, das sich auf die Wirklichkeit eines qualitativ bestimm-
ten Gegenstandes — hier der Geschichte — bezieht, ein Gesetz nennt, wird ganz
anders urteilen, als der, welcher ein Gesetz nur die Erkenntnis nennt, welche
aus bestimmten Ursachen als solchen, die sich im allgemeinen ergebende Wie-
derkehr wichtiger Erscheinungen ableitet.
Das Untersuchungsgebiet der Geschichte schließt neben der Volkswirtschaft und
ihren Teilen alle Abhängigkeit menschlicher Gesellschaftsentwickelung von
Natur-, Rasse-, biologischen Verhältnissen, alle Entwickelung der Sprache,
der Sitte, des Rechts, der Religion, der gesamten Gesellschaftsverfassung und
der individual- und massenpsychologischen Kräfte in sich, also eine Summe
von halbfertigen, teilweise kaum begonnenen Wissenschaften. Wir müßten
über Vererbung und Degeneration, über die psychischen Ursachen und ihre
Gesetze, über die große Frage des relativen Anteils des Genies und der Massen
an der historischen Gesamtentwickelung und viele andere wissenschaftliche
Fragen nach meiner Ansicht viel weiter sein, wenn wir ernstlich von histo-
rischen Gesetzen sollten sprechen können. Wenn Sigwart betont, alles historische
Urteil komme heute aus dem Schwanken zwischen der überwiegenden Beto-
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[103/0107] ¹⁴ den Knies hierfür vorschlägt, nicht von Gesetzen der Kausalität, sondern von solchen der Analogie zu sprechen, scheint mir kein glücklicher. Von gesetz- mäßiger Entwickelung ähnlicher historischer Reihen können wir wohl spre- chen, aber nicht von mehr. Wir verzichten natürlich nicht auf die Hoff- nung, später noch sehr viel weiter zu kommen, als wir heute sind; wir lassen damit unseren Glauben nicht fahren, daß alles auf der Welt nach Ursachen und Gesetzen geschehe, noch weniger die Hoffnung, mit unserer Erkenntnis ge- wisse Wahrscheinlichkeiten künftiger Entwickelungsreihen zu gewinnen. Was wir hier von der Anwendung des Gesetzesbegriffs auf die zunehmende Erkenntnis der Entwickelung einzelner Teile und der ganzen Volkswirtschaft sagen, gilt natürlich noch mehr, wenn wir die Volkswirtschaft und ihre Teil- gebiete nun als bloße Ausschnitte aus dem Gesamtgebiete des ganzen Volks-, Gesellschafts- und Staatslebens betrachten, d. h. wenn wir die historische Entwickelung der Staaten und der Menschheit als ein Ganzes erfassen, wenn wir den Sinn und den Zusammenhang der Geschichte überhaupt uns klar ma- chen wollen. Es bedeutet gewiß einen der größesten geistigen Fortschritte, daß man über die älteren religiösen und metaphysischen Vorstellungen in bezug auf diese letzten großen Fragen hinauskommen wollte zu realer wis- senschaftlicher Erkenntnis der Geschichte. Und einzelne Optimisten glauben ja nun auch auf diesem Gebiete schon zu Gesetzen, zu „historischen Ge- setzen“ gekommen zu sein. Die Frage ist aber, wie weit das möglich sei, ob das, was heute mannigfach so genannt wird, nicht bloß Versuche auf dem Wege zu solchen sind, ob hier überhaupt je von Gesetzen in dem Sinne, wie wir ihn begrenzt haben, zu sprechen sein werde, ob das, was man „Ge- setze“ genannt hat, nicht bloß Begriffsbildungen sind, die wir uns als in einer historischen Reihe sich folgend denken, oder Urteile und Erfahrungssätze, deren Grenzen und Verursachungen wir nur ganz unvollkommen kennen. Es kommt da natürlich auch wesentlich auf den Begriff an, den der einzelne Gelehrte sich vom Wesen des „Gesetzes“ gemacht hat. Wer, wie Lamprecht, jedes stichhaltige Urteil, das sich auf die Wirklichkeit eines qualitativ bestimm- ten Gegenstandes — hier der Geschichte — bezieht, ein Gesetz nennt, wird ganz anders urteilen, als der, welcher ein Gesetz nur die Erkenntnis nennt, welche aus bestimmten Ursachen als solchen, die sich im allgemeinen ergebende Wie- derkehr wichtiger Erscheinungen ableitet. Das Untersuchungsgebiet der Geschichte schließt neben der Volkswirtschaft und ihren Teilen alle Abhängigkeit menschlicher Gesellschaftsentwickelung von Natur-, Rasse-, biologischen Verhältnissen, alle Entwickelung der Sprache, der Sitte, des Rechts, der Religion, der gesamten Gesellschaftsverfassung und der individual- und massenpsychologischen Kräfte in sich, also eine Summe von halbfertigen, teilweise kaum begonnenen Wissenschaften. Wir müßten über Vererbung und Degeneration, über die psychischen Ursachen und ihre Gesetze, über die große Frage des relativen Anteils des Genies und der Massen an der historischen Gesamtentwickelung und viele andere wissenschaftliche Fragen nach meiner Ansicht viel weiter sein, wenn wir ernstlich von histo- rischen Gesetzen sollten sprechen können. Wenn Sigwart betont, alles historische Urteil komme heute aus dem Schwanken zwischen der überwiegenden Beto- nung des Individuellen und der einseitigen Abteilung aus den Massenerschei- nungen nicht heraus, wenn auch Wundt, wie Dilthey, Windelband und seine

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/107>, abgerufen am 21.11.2024.