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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Schüler die große Wichtigkeit des Singulären, Irrationalen in aller Geschichte in
den Vordergrund rücken, das wir natürlich auch als gesetzmäßig verlaufend
zu denken haben, es aber nicht aus Ursachen ableiten können; und wenn
Wundt betont, daß Gesetze demnach auf allen Gebieten in dem Maße schwie-
riger werden, als der Spielraum singulärer Einflüsse wachse, so wird man
zwar mit den genannten Philosophen jeden Fortschritt in psychologisch-histori-
scher Erkenntnis mit Freude begrüßen, aber doch mit ihnen, mit Sigwart,
mit Rümelin, wie mit der Mehrzahl der Historiker mindestens für die Gegen-
wart die Erreichung historischer Gesetze ablehnen.
Was hat man nicht alles für ein historisches Gesetz erklärt: praktische Lebens-
erfahrungen, denen stets wie den Sprichwörtern entgegengesetzte gegenüber-
stehen; man sprach von einem Gesetz des Beharrens, wie von einem des Wech-
sels in der Geschichte der Völker. Man nannte die Analogie der Völkerent-
wickelung mit den Lebensaltern des Individuums ein Gesetz. Bückle nennt es
ein Gesetz, daß der Fortschritt des Menschengeschlechts auf dem Erfolg be-
ruhe, der sich an der Erforschung der Gesetze der materiellen Erscheinungen
knüpfe. Kant nennt es nicht ein Gesetz, sondern eine Maxime, einen Vernunft-
begriff, eine Idee, einen verborgenen Plan der Natur, daß der Streit zwischen
der Selbstsucht der Individuen durch die Vergesellschaftung, durch die Staats-
ordnung und ihre Gesetze mehr und mehr im Laufe der Geschichte ge-
schlichtet werde; es ist eine teleologische Vorstellung, wie die, welche den
Sinn der Geschichte in der Erziehung des Menschengeschlechts oder in dem
Siege des Geistes über die Natur findet. Solche Ideen gehen über die alten
stoisch-christlichen Vorstellungen von der Aufeinanderfolge einer Reihe von
Weltreichen, deren letztes das Gottesreich sein werde, wohl etwas, aber doch
nicht erheblich hinaus. Neuere materialistische Konstruktionen leiten aus den
Fortschritten der Technik alle Völkerschicksale ab; es handelt sich um Teil-
erkenntnisse, die das Ganze nicht erklären, so förderlich eine Geschichte der
Technik als Hilfsmittel für Geschichtserklärung sein mag.
Wenn Wundt und Dilthey für eine vertiefte Geschichtserklärung vor allem
auf die beschreibende Psychologie und ihre Gesetze hinweisen, so haben sie
sicher darin recht, daß jede vertiefte Geschichtserklärung diesen Weg neben
der Erforschung und Erfassung des Individuellen gehen müsse. Und wenn Lam-
precht Versuche in dieser Richtung angestellt hat, z. B. durch seine an-
ziehende Abhandlung über das deutsche Geistesleben der Ottonen und durch
seine deutschen Kulturzeitalter, die er sowohl jedes für sich als jedes im
Übergang von älteren zum neuen zu erfassen sucht, so liegt darin für mich
sicher der Versuch eines Fortschrittes auf dem rechten Wege. Aber doch nur
ein Versuch und nicht eine Aufdeckung von Gesetzen der Geschichte.
Er wie die meisten vor und nach ihm auf ähnlichen Wegen Wandelnden z. B.
auch Breysig sind bis jetzt über Periodisierung, über Begriffsbildung in bezug
auf die Perioden und über tastende Versuche der empirisch-historischen Ur-
sachenaufhellung nicht hinausgekommen. In dieser Beziehung ist gewiß nicht
Unbedeutendes geleistet worden; und was geleistet wurde, steht immer auf
etwas sicherem Boden als die älteren religiösen, teleologischen und spekulativen
Vorstellungen und Konstruktionen. Aber Lamprecht hätte mehr gewirkt, er
hätte größeren Einfluß errungen, wenn er nicht von seiner Größe und seinen
Erfolgen berauscht, die Gegner so sehr von oben herab verunglimpft hätte, zu
Schüler die große Wichtigkeit des Singulären, Irrationalen in aller Geschichte in
den Vordergrund rücken, das wir natürlich auch als gesetzmäßig verlaufend
zu denken haben, es aber nicht aus Ursachen ableiten können; und wenn
Wundt betont, daß Gesetze demnach auf allen Gebieten in dem Maße schwie-
riger werden, als der Spielraum singulärer Einflüsse wachse, so wird man
zwar mit den genannten Philosophen jeden Fortschritt in psychologisch-histori-
scher Erkenntnis mit Freude begrüßen, aber doch mit ihnen, mit Sigwart,
mit Rümelin, wie mit der Mehrzahl der Historiker mindestens für die Gegen-
wart die Erreichung historischer Gesetze ablehnen.
Was hat man nicht alles für ein historisches Gesetz erklärt: praktische Lebens-
erfahrungen, denen stets wie den Sprichwörtern entgegengesetzte gegenüber-
stehen; man sprach von einem Gesetz des Beharrens, wie von einem des Wech-
sels in der Geschichte der Völker. Man nannte die Analogie der Völkerent-
wickelung mit den Lebensaltern des Individuums ein Gesetz. Bückle nennt es
ein Gesetz, daß der Fortschritt des Menschengeschlechts auf dem Erfolg be-
ruhe, der sich an der Erforschung der Gesetze der materiellen Erscheinungen
knüpfe. Kant nennt es nicht ein Gesetz, sondern eine Maxime, einen Vernunft-
begriff, eine Idee, einen verborgenen Plan der Natur, daß der Streit zwischen
der Selbstsucht der Individuen durch die Vergesellschaftung, durch die Staats-
ordnung und ihre Gesetze mehr und mehr im Laufe der Geschichte ge-
schlichtet werde; es ist eine teleologische Vorstellung, wie die, welche den
Sinn der Geschichte in der Erziehung des Menschengeschlechts oder in dem
Siege des Geistes über die Natur findet. Solche Ideen gehen über die alten
stoisch-christlichen Vorstellungen von der Aufeinanderfolge einer Reihe von
Weltreichen, deren letztes das Gottesreich sein werde, wohl etwas, aber doch
nicht erheblich hinaus. Neuere materialistische Konstruktionen leiten aus den
Fortschritten der Technik alle Völkerschicksale ab; es handelt sich um Teil-
erkenntnisse, die das Ganze nicht erklären, so förderlich eine Geschichte der
Technik als Hilfsmittel für Geschichtserklärung sein mag.
Wenn Wundt und Dilthey für eine vertiefte Geschichtserklärung vor allem
auf die beschreibende Psychologie und ihre Gesetze hinweisen, so haben sie
sicher darin recht, daß jede vertiefte Geschichtserklärung diesen Weg neben
der Erforschung und Erfassung des Individuellen gehen müsse. Und wenn Lam-
precht Versuche in dieser Richtung angestellt hat, z. B. durch seine an-
ziehende Abhandlung über das deutsche Geistesleben der Ottonen und durch
seine deutschen Kulturzeitalter, die er sowohl jedes für sich als jedes im
Übergang von älteren zum neuen zu erfassen sucht, so liegt darin für mich
sicher der Versuch eines Fortschrittes auf dem rechten Wege. Aber doch nur
ein Versuch und nicht eine Aufdeckung von Gesetzen der Geschichte.
Er wie die meisten vor und nach ihm auf ähnlichen Wegen Wandelnden z. B.
auch Breysig sind bis jetzt über Periodisierung, über Begriffsbildung in bezug
auf die Perioden und über tastende Versuche der empirisch-historischen Ur-
sachenaufhellung nicht hinausgekommen. In dieser Beziehung ist gewiß nicht
Unbedeutendes geleistet worden; und was geleistet wurde, steht immer auf
etwas sicherem Boden als die älteren religiösen, teleologischen und spekulativen
Vorstellungen und Konstruktionen. Aber Lamprecht hätte mehr gewirkt, er
hätte größeren Einfluß errungen, wenn er nicht von seiner Größe und seinen
Erfolgen berauscht, die Gegner so sehr von oben herab verunglimpft hätte, zu
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[104/0108] ¹⁴ Schüler die große Wichtigkeit des Singulären, Irrationalen in aller Geschichte in den Vordergrund rücken, das wir natürlich auch als gesetzmäßig verlaufend zu denken haben, es aber nicht aus Ursachen ableiten können; und wenn Wundt betont, daß Gesetze demnach auf allen Gebieten in dem Maße schwie- riger werden, als der Spielraum singulärer Einflüsse wachse, so wird man zwar mit den genannten Philosophen jeden Fortschritt in psychologisch-histori- scher Erkenntnis mit Freude begrüßen, aber doch mit ihnen, mit Sigwart, mit Rümelin, wie mit der Mehrzahl der Historiker mindestens für die Gegen- wart die Erreichung historischer Gesetze ablehnen. Was hat man nicht alles für ein historisches Gesetz erklärt: praktische Lebens- erfahrungen, denen stets wie den Sprichwörtern entgegengesetzte gegenüber- stehen; man sprach von einem Gesetz des Beharrens, wie von einem des Wech- sels in der Geschichte der Völker. Man nannte die Analogie der Völkerent- wickelung mit den Lebensaltern des Individuums ein Gesetz. Bückle nennt es ein Gesetz, daß der Fortschritt des Menschengeschlechts auf dem Erfolg be- ruhe, der sich an der Erforschung der Gesetze der materiellen Erscheinungen knüpfe. Kant nennt es nicht ein Gesetz, sondern eine Maxime, einen Vernunft- begriff, eine Idee, einen verborgenen Plan der Natur, daß der Streit zwischen der Selbstsucht der Individuen durch die Vergesellschaftung, durch die Staats- ordnung und ihre Gesetze mehr und mehr im Laufe der Geschichte ge- schlichtet werde; es ist eine teleologische Vorstellung, wie die, welche den Sinn der Geschichte in der Erziehung des Menschengeschlechts oder in dem Siege des Geistes über die Natur findet. Solche Ideen gehen über die alten stoisch-christlichen Vorstellungen von der Aufeinanderfolge einer Reihe von Weltreichen, deren letztes das Gottesreich sein werde, wohl etwas, aber doch nicht erheblich hinaus. Neuere materialistische Konstruktionen leiten aus den Fortschritten der Technik alle Völkerschicksale ab; es handelt sich um Teil- erkenntnisse, die das Ganze nicht erklären, so förderlich eine Geschichte der Technik als Hilfsmittel für Geschichtserklärung sein mag. Wenn Wundt und Dilthey für eine vertiefte Geschichtserklärung vor allem auf die beschreibende Psychologie und ihre Gesetze hinweisen, so haben sie sicher darin recht, daß jede vertiefte Geschichtserklärung diesen Weg neben der Erforschung und Erfassung des Individuellen gehen müsse. Und wenn Lam- precht Versuche in dieser Richtung angestellt hat, z. B. durch seine an- ziehende Abhandlung über das deutsche Geistesleben der Ottonen und durch seine deutschen Kulturzeitalter, die er sowohl jedes für sich als jedes im Übergang von älteren zum neuen zu erfassen sucht, so liegt darin für mich sicher der Versuch eines Fortschrittes auf dem rechten Wege. Aber doch nur ein Versuch und nicht eine Aufdeckung von Gesetzen der Geschichte. Er wie die meisten vor und nach ihm auf ähnlichen Wegen Wandelnden z. B. auch Breysig sind bis jetzt über Periodisierung, über Begriffsbildung in bezug auf die Perioden und über tastende Versuche der empirisch-historischen Ur- sachenaufhellung nicht hinausgekommen. In dieser Beziehung ist gewiß nicht Unbedeutendes geleistet worden; und was geleistet wurde, steht immer auf etwas sicherem Boden als die älteren religiösen, teleologischen und spekulativen Vorstellungen und Konstruktionen. Aber Lamprecht hätte mehr gewirkt, er hätte größeren Einfluß errungen, wenn er nicht von seiner Größe und seinen Erfolgen berauscht, die Gegner so sehr von oben herab verunglimpft hätte, zu

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/108>, abgerufen am 24.11.2024.