Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Fr. J. Neumann hat die Mitwirkung der austeilenden und entgeltenden
Gerechtigkeit bei der Preisbildung und die Art der Betätigung des
Eigennutzes im Großverkehr einer fruchtbaren Analyse unterworfen.
Ich darf daneben meine Untersuchung über die Gerechtigkeit in der
Volkswirtschaft erwähnen, die psychologisch und sozial feststellen und
nachweisen will, wie die Gefühle der Gerechtigkeit sich zu festen Maß-
stäben verdichten und als solche zu konventioneller Herrschaft kom-
men, die volkswirtschaftlichen Einrichtungen mehr und mehr be-
einflussen und in ihrem Sinne umgestalten. Auch meine neueren
Untersuchungen über das kaufmännische Gesellschaftswesen haben ne-
ben dem Zwecke der Untersuchung gewisser Organisationsformen, den
die psychologischen Grundlagen dieser Erscheinungen klarzulegen. Mit
Hilfe zahlreicherer solcher Spezialuntersuchungen wird man dazu ge-
langen, die ganze psychologische Grundlage der Volkswirtschaft wissen-
schaftlich neu zu begründen.

Dazu gehört dann aber noch ein Allgemeineres; man muß den Er-
werbstrieb neben die anderen Triebe stellen, das Wesen der niedrigen
und der höheren Triebe überhaupt erörtern; man muß dem reinen
Triebleben seine Stelle im System psychologischer Verursachung an-
weisen, zeigen, wie die Triebe sämtlich durch die Herrschaft des In-
tellekts und der höheren Gefühle gebändigt werden. Man muß das Ver-
hältnis der Triebe zu den Tugenden und speziell zu den wirtschaft-
lichen Tugenden feststellen. Diese Fragen sind nur zu beantworten,
wenn man sich über das Wesen des Sittlichen und seine Normen, über
Sitte und Recht klar geworden ist. Und hierzu wieder ist nötig, sich
die psychischen Vorgänge in der Gesellschaft, die Entstehung überein-
stimmender Gefühle, Vorstellungen und Tendenzen des Handelns in
bestimmten Kreisen, die Wirkung von Sprache, Schrift und anderen
psycho-physischen Mitteln, durch welche geistige Kollektivkräfte ent-
stehen, klar zu machen. Das Stadium dieser Kollektivkräfte führt dann
zum Verständnis der gesellschaftlichen Kollektiverscheinungen: aus der
Übereinstimmung von Gefühlen, Trieben, Meinungen und Strebungen
innerhalb der einzelnen Rassen, Völker, Klassen, Gemeindeglieder
gehen die sozialen und staatlichen Einrichtungen hervor. Wir kom-
men so zu einer Art Stufenreihe erst einfacher individueller, dann
sammengesetzter, komplizierter psychisch-ethischer Ursachen, die alles
soziale Geschehen erklären, die für das volkswirtschaftliche Leben eben-
so maßgebend sind, wie für das rechtliche, politische, kirchliche, so-
ziale. Ihre Wirkungen sind zu einem großen Teile solche, daß sie, wie
z. B. Familie, Gemeinde, Vereinswesen, Genossenschaftswesen dem
wirtschaftlichen wie anderen Gebieten zugleich angehören. Auch die
volkswirtschaftlich und sozialpolitisch eigentlich wichtigste Tatsache,
die soziale Klassenbildung gehört diesem Gebiete an; sie ist nie wirt-

Fr. J. Neumann hat die Mitwirkung der austeilenden und entgeltenden
Gerechtigkeit bei der Preisbildung und die Art der Betätigung des
Eigennutzes im Großverkehr einer fruchtbaren Analyse unterworfen.
Ich darf daneben meine Untersuchung über die Gerechtigkeit in der
Volkswirtschaft erwähnen, die psychologisch und sozial feststellen und
nachweisen will, wie die Gefühle der Gerechtigkeit sich zu festen Maß-
stäben verdichten und als solche zu konventioneller Herrschaft kom-
men, die volkswirtschaftlichen Einrichtungen mehr und mehr be-
einflussen und in ihrem Sinne umgestalten. Auch meine neueren
Untersuchungen über das kaufmännische Gesellschaftswesen haben ne-
ben dem Zwecke der Untersuchung gewisser Organisationsformen, den
die psychologischen Grundlagen dieser Erscheinungen klarzulegen. Mit
Hilfe zahlreicherer solcher Spezialuntersuchungen wird man dazu ge-
langen, die ganze psychologische Grundlage der Volkswirtschaft wissen-
schaftlich neu zu begründen.

Dazu gehört dann aber noch ein Allgemeineres; man muß den Er-
werbstrieb neben die anderen Triebe stellen, das Wesen der niedrigen
und der höheren Triebe überhaupt erörtern; man muß dem reinen
Triebleben seine Stelle im System psychologischer Verursachung an-
weisen, zeigen, wie die Triebe sämtlich durch die Herrschaft des In-
tellekts und der höheren Gefühle gebändigt werden. Man muß das Ver-
hältnis der Triebe zu den Tugenden und speziell zu den wirtschaft-
lichen Tugenden feststellen. Diese Fragen sind nur zu beantworten,
wenn man sich über das Wesen des Sittlichen und seine Normen, über
Sitte und Recht klar geworden ist. Und hierzu wieder ist nötig, sich
die psychischen Vorgänge in der Gesellschaft, die Entstehung überein-
stimmender Gefühle, Vorstellungen und Tendenzen des Handelns in
bestimmten Kreisen, die Wirkung von Sprache, Schrift und anderen
psycho-physischen Mitteln, durch welche geistige Kollektivkräfte ent-
stehen, klar zu machen. Das Stadium dieser Kollektivkräfte führt dann
zum Verständnis der gesellschaftlichen Kollektiverscheinungen: aus der
Übereinstimmung von Gefühlen, Trieben, Meinungen und Strebungen
innerhalb der einzelnen Rassen, Völker, Klassen, Gemeindeglieder
gehen die sozialen und staatlichen Einrichtungen hervor. Wir kom-
men so zu einer Art Stufenreihe erst einfacher individueller, dann
sammengesetzter, komplizierter psychisch-ethischer Ursachen, die alles
soziale Geschehen erklären, die für das volkswirtschaftliche Leben eben-
so maßgebend sind, wie für das rechtliche, politische, kirchliche, so-
ziale. Ihre Wirkungen sind zu einem großen Teile solche, daß sie, wie
z. B. Familie, Gemeinde, Vereinswesen, Genossenschaftswesen dem
wirtschaftlichen wie anderen Gebieten zugleich angehören. Auch die
volkswirtschaftlich und sozialpolitisch eigentlich wichtigste Tatsache,
die soziale Klassenbildung gehört diesem Gebiete an; sie ist nie wirt-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0057" n="53"/>
        <p>Fr. J. Neumann hat die Mitwirkung der austeilenden und entgeltenden<lb/>
Gerechtigkeit bei der Preisbildung und die Art der Betätigung des<lb/>
Eigennutzes im Großverkehr einer fruchtbaren Analyse unterworfen.<lb/>
Ich darf daneben meine Untersuchung über die Gerechtigkeit in der<lb/>
Volkswirtschaft erwähnen, die psychologisch und sozial feststellen und<lb/>
nachweisen will, wie die Gefühle der Gerechtigkeit sich zu festen Maß-<lb/>
stäben verdichten und als solche zu konventioneller Herrschaft kom-<lb/>
men, die volkswirtschaftlichen Einrichtungen mehr und mehr be-<lb/>
einflussen und in ihrem Sinne umgestalten. Auch meine neueren<lb/>
Untersuchungen über das kaufmännische Gesellschaftswesen haben ne-<lb/>
ben dem Zwecke der Untersuchung gewisser Organisationsformen, den<lb/>
die psychologischen Grundlagen dieser Erscheinungen klarzulegen. Mit<lb/>
Hilfe zahlreicherer solcher Spezialuntersuchungen wird man dazu ge-<lb/>
langen, die ganze psychologische Grundlage der Volkswirtschaft wissen-<lb/>
schaftlich neu zu begründen.</p><lb/>
        <p>Dazu gehört dann aber noch ein Allgemeineres; man muß den Er-<lb/>
werbstrieb neben die anderen Triebe stellen, das Wesen der niedrigen<lb/>
und der höheren Triebe überhaupt erörtern; man muß dem reinen<lb/>
Triebleben seine Stelle im System psychologischer Verursachung an-<lb/>
weisen, zeigen, wie die Triebe sämtlich durch die Herrschaft des In-<lb/>
tellekts und der höheren Gefühle gebändigt werden. Man muß das Ver-<lb/>
hältnis der Triebe zu den Tugenden und speziell zu den wirtschaft-<lb/>
lichen Tugenden feststellen. Diese Fragen sind nur zu beantworten,<lb/>
wenn man sich über das Wesen des Sittlichen und seine Normen, über<lb/>
Sitte und Recht klar geworden ist. Und hierzu wieder ist nötig, sich<lb/>
die psychischen Vorgänge in der Gesellschaft, die Entstehung überein-<lb/>
stimmender Gefühle, Vorstellungen und Tendenzen des Handelns in<lb/>
bestimmten Kreisen, die Wirkung von Sprache, Schrift und anderen<lb/>
psycho-physischen Mitteln, durch welche geistige Kollektivkräfte ent-<lb/>
stehen, klar zu machen. Das Stadium dieser Kollektivkräfte führt dann<lb/>
zum Verständnis der gesellschaftlichen Kollektiverscheinungen: aus der<lb/>
Übereinstimmung von Gefühlen, Trieben, Meinungen und Strebungen<lb/>
innerhalb der einzelnen Rassen, Völker, Klassen, Gemeindeglieder<lb/>
gehen die sozialen und staatlichen Einrichtungen hervor. Wir kom-<lb/>
men so zu einer Art Stufenreihe erst einfacher individueller, dann<lb/>
sammengesetzter, komplizierter psychisch-ethischer Ursachen, die alles<lb/>
soziale Geschehen erklären, die für das volkswirtschaftliche Leben eben-<lb/>
so maßgebend sind, wie für das rechtliche, politische, kirchliche, so-<lb/>
ziale. Ihre Wirkungen sind zu einem großen Teile solche, daß sie, wie<lb/>
z. B. Familie, Gemeinde, Vereinswesen, Genossenschaftswesen dem<lb/>
wirtschaftlichen wie anderen Gebieten zugleich angehören. Auch die<lb/>
volkswirtschaftlich und sozialpolitisch eigentlich wichtigste Tatsache,<lb/>
die soziale Klassenbildung gehört diesem Gebiete an; sie ist nie wirt-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[53/0057] Fr. J. Neumann hat die Mitwirkung der austeilenden und entgeltenden Gerechtigkeit bei der Preisbildung und die Art der Betätigung des Eigennutzes im Großverkehr einer fruchtbaren Analyse unterworfen. Ich darf daneben meine Untersuchung über die Gerechtigkeit in der Volkswirtschaft erwähnen, die psychologisch und sozial feststellen und nachweisen will, wie die Gefühle der Gerechtigkeit sich zu festen Maß- stäben verdichten und als solche zu konventioneller Herrschaft kom- men, die volkswirtschaftlichen Einrichtungen mehr und mehr be- einflussen und in ihrem Sinne umgestalten. Auch meine neueren Untersuchungen über das kaufmännische Gesellschaftswesen haben ne- ben dem Zwecke der Untersuchung gewisser Organisationsformen, den die psychologischen Grundlagen dieser Erscheinungen klarzulegen. Mit Hilfe zahlreicherer solcher Spezialuntersuchungen wird man dazu ge- langen, die ganze psychologische Grundlage der Volkswirtschaft wissen- schaftlich neu zu begründen. Dazu gehört dann aber noch ein Allgemeineres; man muß den Er- werbstrieb neben die anderen Triebe stellen, das Wesen der niedrigen und der höheren Triebe überhaupt erörtern; man muß dem reinen Triebleben seine Stelle im System psychologischer Verursachung an- weisen, zeigen, wie die Triebe sämtlich durch die Herrschaft des In- tellekts und der höheren Gefühle gebändigt werden. Man muß das Ver- hältnis der Triebe zu den Tugenden und speziell zu den wirtschaft- lichen Tugenden feststellen. Diese Fragen sind nur zu beantworten, wenn man sich über das Wesen des Sittlichen und seine Normen, über Sitte und Recht klar geworden ist. Und hierzu wieder ist nötig, sich die psychischen Vorgänge in der Gesellschaft, die Entstehung überein- stimmender Gefühle, Vorstellungen und Tendenzen des Handelns in bestimmten Kreisen, die Wirkung von Sprache, Schrift und anderen psycho-physischen Mitteln, durch welche geistige Kollektivkräfte ent- stehen, klar zu machen. Das Stadium dieser Kollektivkräfte führt dann zum Verständnis der gesellschaftlichen Kollektiverscheinungen: aus der Übereinstimmung von Gefühlen, Trieben, Meinungen und Strebungen innerhalb der einzelnen Rassen, Völker, Klassen, Gemeindeglieder gehen die sozialen und staatlichen Einrichtungen hervor. Wir kom- men so zu einer Art Stufenreihe erst einfacher individueller, dann sammengesetzter, komplizierter psychisch-ethischer Ursachen, die alles soziale Geschehen erklären, die für das volkswirtschaftliche Leben eben- so maßgebend sind, wie für das rechtliche, politische, kirchliche, so- ziale. Ihre Wirkungen sind zu einem großen Teile solche, daß sie, wie z. B. Familie, Gemeinde, Vereinswesen, Genossenschaftswesen dem wirtschaftlichen wie anderen Gebieten zugleich angehören. Auch die volkswirtschaftlich und sozialpolitisch eigentlich wichtigste Tatsache, die soziale Klassenbildung gehört diesem Gebiete an; sie ist nie wirt-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/57
Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/57>, abgerufen am 25.11.2024.