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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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den sog. Anhängern der Deduktion und denen der Induktion aus der Ge-
schichte unserer Wissenschaft zu erklären.
Als im 18. Jahrh. die Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre entstand, entnahm
sie den allgemeinen Rahmen dem Naturrecht und ihre Vorstellungswelt den
damaligen westeuropäischen Staaten. Man kannte außereuropäische Kultur und
Rassen fast noch nicht, man glaubte an die Gleichheit aller Menschen und aller
gesellschaftlichen Einrichtungen; so kam man zu der Vorstellung, aus der all-
gemeinen Menschennatur ergeben sich überall gleiches wirtschaftliches Han-
deln und gleiche Wirtschaftseinrichtungen. In diesen Rahmen zeichnete man
dann das volkswirtschaftliche Detail der Markt-, Wert- und Preiserscheinun-
gen, ferner die Arbeitsteilung der sozialen Klassen und die Einkommensvertei-
lung unter sie, die Grundrente, den Zins, den Arbeitslohn ein. Die Erkennt-
nis über diese Einzeldinge bildete sich aber wesentlich aus der Erfahrung,
aus Beobachtung und geprüften Hypothesen, aus der Induktion. Aber in den
systematischen Werken, die nun 1750--1800 entstanden, erschien dann all das
zusammen als ein fertiges Lehrgebäude, das man von den erkannten oder ver-
muteten psychologischen Ursachen ausgehend darstellte; die Folgen dieser Ur-
sachen wurden deduktiv vorgetragen. Es ist das große Verdienst Hasbachs,
darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß die Lehrbücher für den Unterricht
der Jugend stets so verfahren; sie zeigen nicht, wie die Resultate induktiv
gewonnen wurden, sondern wie sie, einmal gewonnen, deduktiv dargestellt
werden können. Neuerdings hat Lavasseur ganz ähnlich betont, die Unter-
suchung verfahre meist induktiv, die Darstellung gewonnener fertiger Resultate
mehr resp. überwiegend deduktiv.
Als dann im 19. Jahrh. Mill und Cairness nach dem Vorbilde der Naturwissen-
schaften die deduktive Methode für die Nationalökonomie als die wichtige
und ausschlaggebende glaubten hinstellen zu können, bildeten sie sich ein, die
Nationalökonomie sei so auch wesentlich durch Deduktion entstanden. Schon
Ad. Smith sei so verfahren, während doch erst von Ricardo an diese Vor-
stellung entstanden ist und dann sich als allgemeiner Glaube verbreitet hatte.
Schon Malthus hatte ihm deshalb voreilige Generalisation, "crude and prema-
ture theories" vorgeworfen; aber das war schnell vergessen. Immer war, so-
lange die alte Gesellschaftsverfassung, die Arbeitsteilung, der Verkehr sich
noch in ähnlichen Bahnen bewegte, wie 1760--1850, eine starke Veränderung
in der Theorie und der Politik der Volkswirtschaft nicht dringend nötig und
konnte daher auch der Glaube an die allein seligmachende Deduktion herr-
schend bleiben. Erst von Mitte des 19. Jahrh. an wurde das Bedürfnis nach
einem Neubau der Volkswirtschaftslehre dringlich. Eine historische, geogra-
phische, wirtschaftliche und politische Erfahrungswelt von ungeheurem Umfang
stand jetzt der alten deduktiven Theorie und ihren Lehrsätzen gegenüber. Man
sah nun mehr und mehr das Falsche und Schiefe vieler älterer, voreiliger
Generalisationen ein. Neben dem Sozialismus begann die historisch-realistische
Schule den Kampf gegen die alten Methoden der Volkswirtschaftslehre, for-
derte strengere und umfassendere Beobachtung und Beschreibung, Gleich-
berechtigung der Induktion mit der Deduktion. Es war natürlich, daß man in
den Ländern stabilen wissenschaftlichen Lebens und geringer wirtschaftlicher
Entwickelung sich diesen Forderungen entgegensetzte; es wurde das Märchen
verbreitet, von Quesnay und A. Smith bis Ricardo hätten die Nationalökonomen
den sog. Anhängern der Deduktion und denen der Induktion aus der Ge-
schichte unserer Wissenschaft zu erklären.
Als im 18. Jahrh. die Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre entstand, entnahm
sie den allgemeinen Rahmen dem Naturrecht und ihre Vorstellungswelt den
damaligen westeuropäischen Staaten. Man kannte außereuropäische Kultur und
Rassen fast noch nicht, man glaubte an die Gleichheit aller Menschen und aller
gesellschaftlichen Einrichtungen; so kam man zu der Vorstellung, aus der all-
gemeinen Menschennatur ergeben sich überall gleiches wirtschaftliches Han-
deln und gleiche Wirtschaftseinrichtungen. In diesen Rahmen zeichnete man
dann das volkswirtschaftliche Detail der Markt-, Wert- und Preiserscheinun-
gen, ferner die Arbeitsteilung der sozialen Klassen und die Einkommensvertei-
lung unter sie, die Grundrente, den Zins, den Arbeitslohn ein. Die Erkennt-
nis über diese Einzeldinge bildete sich aber wesentlich aus der Erfahrung,
aus Beobachtung und geprüften Hypothesen, aus der Induktion. Aber in den
systematischen Werken, die nun 1750—1800 entstanden, erschien dann all das
zusammen als ein fertiges Lehrgebäude, das man von den erkannten oder ver-
muteten psychologischen Ursachen ausgehend darstellte; die Folgen dieser Ur-
sachen wurden deduktiv vorgetragen. Es ist das große Verdienst Hasbachs,
darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß die Lehrbücher für den Unterricht
der Jugend stets so verfahren; sie zeigen nicht, wie die Resultate induktiv
gewonnen wurden, sondern wie sie, einmal gewonnen, deduktiv dargestellt
werden können. Neuerdings hat Lavasseur ganz ähnlich betont, die Unter-
suchung verfahre meist induktiv, die Darstellung gewonnener fertiger Resultate
mehr resp. überwiegend deduktiv.
Als dann im 19. Jahrh. Mill und Cairness nach dem Vorbilde der Naturwissen-
schaften die deduktive Methode für die Nationalökonomie als die wichtige
und ausschlaggebende glaubten hinstellen zu können, bildeten sie sich ein, die
Nationalökonomie sei so auch wesentlich durch Deduktion entstanden. Schon
Ad. Smith sei so verfahren, während doch erst von Ricardo an diese Vor-
stellung entstanden ist und dann sich als allgemeiner Glaube verbreitet hatte.
Schon Malthus hatte ihm deshalb voreilige Generalisation, „crude and prema-
ture theories“ vorgeworfen; aber das war schnell vergessen. Immer war, so-
lange die alte Gesellschaftsverfassung, die Arbeitsteilung, der Verkehr sich
noch in ähnlichen Bahnen bewegte, wie 1760—1850, eine starke Veränderung
in der Theorie und der Politik der Volkswirtschaft nicht dringend nötig und
konnte daher auch der Glaube an die allein seligmachende Deduktion herr-
schend bleiben. Erst von Mitte des 19. Jahrh. an wurde das Bedürfnis nach
einem Neubau der Volkswirtschaftslehre dringlich. Eine historische, geogra-
phische, wirtschaftliche und politische Erfahrungswelt von ungeheurem Umfang
stand jetzt der alten deduktiven Theorie und ihren Lehrsätzen gegenüber. Man
sah nun mehr und mehr das Falsche und Schiefe vieler älterer, voreiliger
Generalisationen ein. Neben dem Sozialismus begann die historisch-realistische
Schule den Kampf gegen die alten Methoden der Volkswirtschaftslehre, for-
derte strengere und umfassendere Beobachtung und Beschreibung, Gleich-
berechtigung der Induktion mit der Deduktion. Es war natürlich, daß man in
den Ländern stabilen wissenschaftlichen Lebens und geringer wirtschaftlicher
Entwickelung sich diesen Forderungen entgegensetzte; es wurde das Märchen
verbreitet, von Quesnay und A. Smith bis Ricardo hätten die Nationalökonomen
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[93/0097] ¹³ den sog. Anhängern der Deduktion und denen der Induktion aus der Ge- schichte unserer Wissenschaft zu erklären. Als im 18. Jahrh. die Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre entstand, entnahm sie den allgemeinen Rahmen dem Naturrecht und ihre Vorstellungswelt den damaligen westeuropäischen Staaten. Man kannte außereuropäische Kultur und Rassen fast noch nicht, man glaubte an die Gleichheit aller Menschen und aller gesellschaftlichen Einrichtungen; so kam man zu der Vorstellung, aus der all- gemeinen Menschennatur ergeben sich überall gleiches wirtschaftliches Han- deln und gleiche Wirtschaftseinrichtungen. In diesen Rahmen zeichnete man dann das volkswirtschaftliche Detail der Markt-, Wert- und Preiserscheinun- gen, ferner die Arbeitsteilung der sozialen Klassen und die Einkommensvertei- lung unter sie, die Grundrente, den Zins, den Arbeitslohn ein. Die Erkennt- nis über diese Einzeldinge bildete sich aber wesentlich aus der Erfahrung, aus Beobachtung und geprüften Hypothesen, aus der Induktion. Aber in den systematischen Werken, die nun 1750—1800 entstanden, erschien dann all das zusammen als ein fertiges Lehrgebäude, das man von den erkannten oder ver- muteten psychologischen Ursachen ausgehend darstellte; die Folgen dieser Ur- sachen wurden deduktiv vorgetragen. Es ist das große Verdienst Hasbachs, darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß die Lehrbücher für den Unterricht der Jugend stets so verfahren; sie zeigen nicht, wie die Resultate induktiv gewonnen wurden, sondern wie sie, einmal gewonnen, deduktiv dargestellt werden können. Neuerdings hat Lavasseur ganz ähnlich betont, die Unter- suchung verfahre meist induktiv, die Darstellung gewonnener fertiger Resultate mehr resp. überwiegend deduktiv. Als dann im 19. Jahrh. Mill und Cairness nach dem Vorbilde der Naturwissen- schaften die deduktive Methode für die Nationalökonomie als die wichtige und ausschlaggebende glaubten hinstellen zu können, bildeten sie sich ein, die Nationalökonomie sei so auch wesentlich durch Deduktion entstanden. Schon Ad. Smith sei so verfahren, während doch erst von Ricardo an diese Vor- stellung entstanden ist und dann sich als allgemeiner Glaube verbreitet hatte. Schon Malthus hatte ihm deshalb voreilige Generalisation, „crude and prema- ture theories“ vorgeworfen; aber das war schnell vergessen. Immer war, so- lange die alte Gesellschaftsverfassung, die Arbeitsteilung, der Verkehr sich noch in ähnlichen Bahnen bewegte, wie 1760—1850, eine starke Veränderung in der Theorie und der Politik der Volkswirtschaft nicht dringend nötig und konnte daher auch der Glaube an die allein seligmachende Deduktion herr- schend bleiben. Erst von Mitte des 19. Jahrh. an wurde das Bedürfnis nach einem Neubau der Volkswirtschaftslehre dringlich. Eine historische, geogra- phische, wirtschaftliche und politische Erfahrungswelt von ungeheurem Umfang stand jetzt der alten deduktiven Theorie und ihren Lehrsätzen gegenüber. Man sah nun mehr und mehr das Falsche und Schiefe vieler älterer, voreiliger Generalisationen ein. Neben dem Sozialismus begann die historisch-realistische Schule den Kampf gegen die alten Methoden der Volkswirtschaftslehre, for- derte strengere und umfassendere Beobachtung und Beschreibung, Gleich- berechtigung der Induktion mit der Deduktion. Es war natürlich, daß man in den Ländern stabilen wissenschaftlichen Lebens und geringer wirtschaftlicher Entwickelung sich diesen Forderungen entgegensetzte; es wurde das Märchen verbreitet, von Quesnay und A. Smith bis Ricardo hätten die Nationalökonomen

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/97>, abgerufen am 28.11.2024.