Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gisander [i. e. Schnabel, Johann Gottfried]: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer. Bd. 2. Nordhausen, 1737.

Bild:
<< vorherige Seite

jüngster Bruder aber 6. Jahr alt, und weil mein
Vater durch seine Arbeit, die er unter andern Zim-
mer-Meistern nur als Geselle verrichtet, wenig
Schätze sammlen, sondern mit genauer Noth die
Seinigen erhaltenkönnen, mußten wir uns, nach-
dem das wenige Geräthe verkaufft und aufgezeh-
ret war, bequemen, nebst unserer Mutter den Bet-
tel-Stab zu ergreiffen, denn weil meine Mutter eine
arme fremde Dienst-Magd, mein Vater aber
ebenfalls ein Fremder gewesen, so fand sich kein ein-
tziger Freund, der eines oder das andere Kind auf-
nehmen oder ernähren wolte. Demnach suchten
wir unser Brod, von einem Dorffe und Stadt zur
andern, mit Beten und Singen vor der Leute Thü-
ren, daß aber solchergestalt, zuweilen viel Kummer
und Noth mit untergelauffen, ist leichtlich zu erach-
ten, jedoch meine Mutter, welche um selbige Zeit et-
wa 32. bis 33. Jahr alt war, gedachte sich ihr Elend
zu erleichtern, indem sie einen abgedanckten Solda-
ten heyrathete, welcher seines abgeschossenen Beins
wegen zu Pferde im Lande herum bettelte. Ob sie sich
ordentlich mit ihm copuliren lassen, weiß ich zwar
nicht, aber allem Ansehen nach, waren sie rechte Ehe-
Leute, u. meine Mutter erzeigte ihrem neuen, wiewohl
sehr wunderlichen und jachzornigen Manne alle ge-
horsamliche Ehr-Furcht, so daß sie wegen der allzu-
starcken ehelichen Liebe, die kindliche gegen uns, ihre
beyden Söhne, zu vergessen schien, dessen die täglichen
Schläge ein sattsames Zeugniß abstatteten, zumah-
len wenn wir armen Knaben, des abends, nicht
gnugsame Pfennige, Brod und andere Victualien-
Stücken einbrachten, denn es ist zu mercken, daß ich

und

juͤngſter Bruder aber 6. Jahr alt, und weil mein
Vater durch ſeine Arbeit, die er unter andern Zim-
mer-Meiſtern nur als Geſelle verrichtet, wenig
Schaͤtze ſammlen, ſondern mit genauer Noth die
Seinigen erhaltenkoͤnnen, mußten wir uns, nach-
dem das wenige Geraͤthe verkaufft und aufgezeh-
ret war, bequemen, nebſt unſerer Mutter den Bet-
tel-Stab zu ergreiffen, denn weil meine Mutter eine
arme fremde Dienſt-Magd, mein Vater aber
ebenfalls ein Fremder geweſen, ſo fand ſich kein ein-
tziger Freund, der eines oder das andere Kind auf-
nehmen oder ernaͤhren wolte. Demnach ſuchten
wir unſer Brod, von einem Dorffe und Stadt zur
andern, mit Beten und Singen vor der Leute Thuͤ-
ren, daß aber ſolchergeſtalt, zuweilen viel Kummer
und Noth mit untergelauffen, iſt leichtlich zu erach-
ten, jedoch meine Mutter, welche um ſelbige Zeit et-
wa 32. bis 33. Jahr alt war, gedachte ſich ihr Elend
zu erleichtern, indem ſie einen abgedanckten Solda-
ten heyrathete, welcher ſeines abgeſchoſſenen Beins
wegen zu Pferde im Lande herum bettelte. Ob ſie ſich
ordentlich mit ihm copuliren laſſen, weiß ich zwar
nicht, aber allem Anſehen nach, waren ſie rechte Ehe-
Leute, u. meine Mutter erzeigte ihrem neuen, wiewohl
ſehr wunderlichen und jachzornigen Manne alle ge-
horſamliche Ehr-Furcht, ſo daß ſie wegen der allzu-
ſtarcken ehelichen Liebe, die kindliche gegen uns, ihre
beyden Soͤhne, zu vergeſſen ſchien, deſſen die taͤglichen
Schlaͤge ein ſattſames Zeugniß abſtatteten, zumah-
len wenn wir armen Knaben, des abends, nicht
gnugſame Pfennige, Brod und andere Victualien-
Stuͤcken einbrachten, denn es iſt zu mercken, daß ich

und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0484" n="468"/>
ju&#x0364;ng&#x017F;ter Bruder aber 6. Jahr alt, und weil mein<lb/>
Vater durch &#x017F;eine Arbeit, die er unter andern Zim-<lb/>
mer-Mei&#x017F;tern nur als Ge&#x017F;elle verrichtet, wenig<lb/>
Scha&#x0364;tze &#x017F;ammlen, &#x017F;ondern mit genauer Noth die<lb/>
Seinigen erhaltenko&#x0364;nnen, mußten wir uns, nach-<lb/>
dem das wenige Gera&#x0364;the verkaufft und aufgezeh-<lb/>
ret war, bequemen, neb&#x017F;t un&#x017F;erer Mutter den Bet-<lb/>
tel-Stab zu ergreiffen, denn weil meine Mutter eine<lb/>
arme fremde Dien&#x017F;t-Magd, mein Vater aber<lb/>
ebenfalls ein Fremder gewe&#x017F;en, &#x017F;o fand &#x017F;ich kein ein-<lb/>
tziger Freund, der eines oder das andere Kind auf-<lb/>
nehmen oder erna&#x0364;hren wolte. Demnach &#x017F;uchten<lb/>
wir un&#x017F;er Brod, von einem Dorffe und Stadt zur<lb/>
andern, mit Beten und Singen vor der Leute Thu&#x0364;-<lb/>
ren, daß aber &#x017F;olcherge&#x017F;talt, zuweilen viel Kummer<lb/>
und Noth mit untergelauffen, i&#x017F;t leichtlich zu erach-<lb/>
ten, jedoch meine Mutter, welche um &#x017F;elbige Zeit et-<lb/>
wa 32. bis 33. Jahr alt war, gedachte &#x017F;ich ihr Elend<lb/>
zu erleichtern, indem &#x017F;ie einen abgedanckten Solda-<lb/>
ten heyrathete, welcher &#x017F;eines abge&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;enen Beins<lb/>
wegen zu Pferde im Lande herum bettelte. Ob &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
ordentlich mit ihm <hi rendition="#aq">copulir</hi>en la&#x017F;&#x017F;en, weiß ich zwar<lb/>
nicht, aber allem An&#x017F;ehen nach, waren &#x017F;ie rechte Ehe-<lb/>
Leute, u. meine Mutter erzeigte ihrem neuen, wiewohl<lb/>
&#x017F;ehr wunderlichen und jachzornigen Manne alle ge-<lb/>
hor&#x017F;amliche Ehr-Furcht, &#x017F;o daß &#x017F;ie wegen der allzu-<lb/>
&#x017F;tarcken ehelichen Liebe, die kindliche gegen uns, ihre<lb/>
beyden So&#x0364;hne, zu verge&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chien, de&#x017F;&#x017F;en die ta&#x0364;glichen<lb/>
Schla&#x0364;ge ein &#x017F;att&#x017F;ames Zeugniß ab&#x017F;tatteten, zumah-<lb/>
len wenn wir armen Knaben, des abends, nicht<lb/>
gnug&#x017F;ame Pfennige, Brod und andere <hi rendition="#aq">Victuali</hi>en-<lb/>
Stu&#x0364;cken einbrachten, denn es i&#x017F;t zu mercken, daß ich<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[468/0484] juͤngſter Bruder aber 6. Jahr alt, und weil mein Vater durch ſeine Arbeit, die er unter andern Zim- mer-Meiſtern nur als Geſelle verrichtet, wenig Schaͤtze ſammlen, ſondern mit genauer Noth die Seinigen erhaltenkoͤnnen, mußten wir uns, nach- dem das wenige Geraͤthe verkaufft und aufgezeh- ret war, bequemen, nebſt unſerer Mutter den Bet- tel-Stab zu ergreiffen, denn weil meine Mutter eine arme fremde Dienſt-Magd, mein Vater aber ebenfalls ein Fremder geweſen, ſo fand ſich kein ein- tziger Freund, der eines oder das andere Kind auf- nehmen oder ernaͤhren wolte. Demnach ſuchten wir unſer Brod, von einem Dorffe und Stadt zur andern, mit Beten und Singen vor der Leute Thuͤ- ren, daß aber ſolchergeſtalt, zuweilen viel Kummer und Noth mit untergelauffen, iſt leichtlich zu erach- ten, jedoch meine Mutter, welche um ſelbige Zeit et- wa 32. bis 33. Jahr alt war, gedachte ſich ihr Elend zu erleichtern, indem ſie einen abgedanckten Solda- ten heyrathete, welcher ſeines abgeſchoſſenen Beins wegen zu Pferde im Lande herum bettelte. Ob ſie ſich ordentlich mit ihm copuliren laſſen, weiß ich zwar nicht, aber allem Anſehen nach, waren ſie rechte Ehe- Leute, u. meine Mutter erzeigte ihrem neuen, wiewohl ſehr wunderlichen und jachzornigen Manne alle ge- horſamliche Ehr-Furcht, ſo daß ſie wegen der allzu- ſtarcken ehelichen Liebe, die kindliche gegen uns, ihre beyden Soͤhne, zu vergeſſen ſchien, deſſen die taͤglichen Schlaͤge ein ſattſames Zeugniß abſtatteten, zumah- len wenn wir armen Knaben, des abends, nicht gnugſame Pfennige, Brod und andere Victualien- Stuͤcken einbrachten, denn es iſt zu mercken, daß ich und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schnabel_fata02_1737
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schnabel_fata02_1737/484
Zitationshilfe: Gisander [i. e. Schnabel, Johann Gottfried]: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer. Bd. 2. Nordhausen, 1737, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schnabel_fata02_1737/484>, abgerufen am 22.11.2024.