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Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822.

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Chasse celebre
, und die armen verschüchterten
Nonnen versicherten lange umsonst, daß sie gar
nicht einmal wüßten, was man fordere; die unver-
kennbare Wahrheit, welche in ihrer Angst selbst
Bestätigung fand, trug indessen endlich den Sieg
davon; die Plünderer glaubten sich von Descamps
irre geleitet und zogen mit leeren Händen ab.
Nur erst nach geraumer Zeit erfuhren die Nonnen,
daß mit dieser geforderten Chasse nichts mehr und
nichts minder gemeint gewesen sey, als das Kleinod
ihres Hauses, der Reliquienkasten der heiligen Ur-
sula, den sie in ihrem Flandrischen Patois la Ryve
zu nennen gewohnt waren, ein Wort, für das sie
den richtigen französischen Ausdruck bis dahin nie
gehört hatten.

Die Legende der Märtyrer und Heiligen kennt
beinahe keinen an heitern malerischen Motifen reich-
haltigern Stoff, als die Sage von der schönen hel-
denmüthigen Ursula und ihren Gefährtinnen, welche
Hemling hier zu einer Reihefolge von Darstellungen
sehr glücklich zu benutzen wußte. Ursula war, wie
die Legende erzählt, die Tochter eines Königs, der


Châsse célèbre
, und die armen verſchüchterten
Nonnen verſicherten lange umſonſt, daß ſie gar
nicht einmal wüßten, was man fordere; die unver-
kennbare Wahrheit, welche in ihrer Angſt ſelbſt
Beſtätigung fand, trug indeſſen endlich den Sieg
davon; die Plünderer glaubten ſich von Descamps
irre geleitet und zogen mit leeren Händen ab.
Nur erſt nach geraumer Zeit erfuhren die Nonnen,
daß mit dieſer geforderten Châsse nichts mehr und
nichts minder gemeint geweſen ſey, als das Kleinod
ihres Hauſes, der Reliquienkaſten der heiligen Ur-
ſula, den ſie in ihrem Flandriſchen Patois la Ryve
zu nennen gewohnt waren, ein Wort, für das ſie
den richtigen franzöſiſchen Ausdruck bis dahin nie
gehört hatten.

Die Legende der Märtyrer und Heiligen kennt
beinahe keinen an heitern maleriſchen Motifen reich-
haltigern Stoff, als die Sage von der ſchönen hel-
denmüthigen Urſula und ihren Gefährtinnen, welche
Hemling hier zu einer Reihefolge von Darſtellungen
ſehr glücklich zu benutzen wußte. Urſula war, wie
die Legende erzählt, die Tochter eines Königs, der

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[156/0168] Châsse célèbre, und die armen verſchüchterten Nonnen verſicherten lange umſonſt, daß ſie gar nicht einmal wüßten, was man fordere; die unver- kennbare Wahrheit, welche in ihrer Angſt ſelbſt Beſtätigung fand, trug indeſſen endlich den Sieg davon; die Plünderer glaubten ſich von Descamps irre geleitet und zogen mit leeren Händen ab. Nur erſt nach geraumer Zeit erfuhren die Nonnen, daß mit dieſer geforderten Châsse nichts mehr und nichts minder gemeint geweſen ſey, als das Kleinod ihres Hauſes, der Reliquienkaſten der heiligen Ur- ſula, den ſie in ihrem Flandriſchen Patois la Ryve zu nennen gewohnt waren, ein Wort, für das ſie den richtigen franzöſiſchen Ausdruck bis dahin nie gehört hatten. Die Legende der Märtyrer und Heiligen kennt beinahe keinen an heitern maleriſchen Motifen reich- haltigern Stoff, als die Sage von der ſchönen hel- denmüthigen Urſula und ihren Gefährtinnen, welche Hemling hier zu einer Reihefolge von Darſtellungen ſehr glücklich zu benutzen wußte. Urſula war, wie die Legende erzählt, die Tochter eines Königs, der

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Zitationshilfe: Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/168>, abgerufen am 30.11.2024.