Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822.

Bild:
<< vorherige Seite


thümlichen Charackter. Kein Zug dieses köstlichen
Gemäldes, der nicht voll zarter und ernster Andeu-
tungen einer nahen, die Welt beglückenden Zukunft
wäre. Das ahnende Erwarten derselben spricht
sich vor Allem in dem schönen, edlen, ausdrucks-
vollen Kopf des Heiligen aus, doch auch allem
Übrigen lieh hier der begeisterte Künstler eine
jedem Volke verständliche Sprache.

Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, noch
fehlt ihr belebendes Licht, aber die ganze herrliche,
reich blühende Gegend schwimmt im rosigen Schim-
mer einer Morgenröthe, die den schönsten heitersten
Tag verspricht; neben dem Heiligen auf einem Fel-
senstück sitzt ein Eisvogel, der Verkündiger guter
Zeit. Jm Bache, dicht am Ufer, eilt eine schöne
kleine Schlange hinter einer Eidechse her; in vielen
Gegenden ist dieses kleine Thier als Vorläufer der
Schlangen allbekannt, und wenn man, von den
schädlichen Eigenschaften einiger Schlangen abge-
sehen, sich erinnert, daß auch im alten Testament
Christus durch die erhöhte eherne Schlange vorge-
bildet ward, deren Anblick Sterbende gesund machte,


thümlichen Charackter. Kein Zug dieſes köſtlichen
Gemäldes, der nicht voll zarter und ernſter Andeu-
tungen einer nahen, die Welt beglückenden Zukunft
wäre. Das ahnende Erwarten derſelben ſpricht
ſich vor Allem in dem ſchönen, edlen, ausdrucks-
vollen Kopf des Heiligen aus, doch auch allem
Übrigen lieh hier der begeiſterte Künſtler eine
jedem Volke verſtändliche Sprache.

Noch iſt die Sonne nicht aufgegangen, noch
fehlt ihr belebendes Licht, aber die ganze herrliche,
reich blühende Gegend ſchwimmt im roſigen Schim-
mer einer Morgenröthe, die den ſchönſten heiterſten
Tag verſpricht; neben dem Heiligen auf einem Fel-
ſenſtück ſitzt ein Eisvogel, der Verkündiger guter
Zeit. Jm Bache, dicht am Ufer, eilt eine ſchöne
kleine Schlange hinter einer Eidechſe her; in vielen
Gegenden iſt dieſes kleine Thier als Vorläufer der
Schlangen allbekannt, und wenn man, von den
ſchädlichen Eigenſchaften einiger Schlangen abge-
ſehen, ſich erinnert, daß auch im alten Teſtament
Chriſtus durch die erhöhte eherne Schlange vorge-
bildet ward, deren Anblick Sterbende geſund machte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0196" n="184"/><lb/>
thümlichen Charackter. Kein Zug die&#x017F;es kö&#x017F;tlichen<lb/>
Gemäldes, der nicht voll zarter und ern&#x017F;ter Andeu-<lb/>
tungen einer nahen, die Welt beglückenden Zukunft<lb/>
wäre. Das ahnende Erwarten der&#x017F;elben &#x017F;pricht<lb/>
&#x017F;ich vor Allem in dem &#x017F;chönen, edlen, ausdrucks-<lb/>
vollen Kopf des Heiligen aus, doch auch allem<lb/>
Übrigen lieh hier der begei&#x017F;terte Kün&#x017F;tler eine<lb/>
jedem Volke ver&#x017F;tändliche Sprache.</p><lb/>
        <p>Noch i&#x017F;t die Sonne nicht aufgegangen, noch<lb/>
fehlt ihr belebendes Licht, aber die ganze herrliche,<lb/>
reich blühende Gegend &#x017F;chwimmt im ro&#x017F;igen Schim-<lb/>
mer einer Morgenröthe, die den &#x017F;chön&#x017F;ten heiter&#x017F;ten<lb/>
Tag ver&#x017F;pricht; neben dem Heiligen auf einem Fel-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;tück &#x017F;itzt ein Eisvogel, der Verkündiger guter<lb/>
Zeit. Jm Bache, dicht am Ufer, eilt eine &#x017F;chöne<lb/>
kleine Schlange hinter einer Eidech&#x017F;e her; in vielen<lb/>
Gegenden i&#x017F;t die&#x017F;es kleine Thier als Vorläufer der<lb/>
Schlangen allbekannt, und wenn man, von den<lb/>
&#x017F;chädlichen Eigen&#x017F;chaften einiger Schlangen abge-<lb/>
&#x017F;ehen, &#x017F;ich erinnert, daß auch im alten Te&#x017F;tament<lb/>
Chri&#x017F;tus durch die erhöhte eherne Schlange vorge-<lb/>
bildet ward, deren Anblick Sterbende ge&#x017F;und machte,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0196] thümlichen Charackter. Kein Zug dieſes köſtlichen Gemäldes, der nicht voll zarter und ernſter Andeu- tungen einer nahen, die Welt beglückenden Zukunft wäre. Das ahnende Erwarten derſelben ſpricht ſich vor Allem in dem ſchönen, edlen, ausdrucks- vollen Kopf des Heiligen aus, doch auch allem Übrigen lieh hier der begeiſterte Künſtler eine jedem Volke verſtändliche Sprache. Noch iſt die Sonne nicht aufgegangen, noch fehlt ihr belebendes Licht, aber die ganze herrliche, reich blühende Gegend ſchwimmt im roſigen Schim- mer einer Morgenröthe, die den ſchönſten heiterſten Tag verſpricht; neben dem Heiligen auf einem Fel- ſenſtück ſitzt ein Eisvogel, der Verkündiger guter Zeit. Jm Bache, dicht am Ufer, eilt eine ſchöne kleine Schlange hinter einer Eidechſe her; in vielen Gegenden iſt dieſes kleine Thier als Vorläufer der Schlangen allbekannt, und wenn man, von den ſchädlichen Eigenſchaften einiger Schlangen abge- ſehen, ſich erinnert, daß auch im alten Teſtament Chriſtus durch die erhöhte eherne Schlange vorge- bildet ward, deren Anblick Sterbende geſund machte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/196
Zitationshilfe: Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/196>, abgerufen am 27.11.2024.