Marias Gesicht gleicht einer weißen Rose, die ein ätherischer röthlicher Hauch kaum sichtbar färbt. Ein leises seliges Lächeln umschwebt die noch im Tode frischblühenden Lippen des schönen Mundes, und die gewölbten Augenlieder scheinen wie vor Wonne über das blendende Licht des Paradieses geschlossen. Alles drückende, beängstigende ist aus diesem Sterbe- zimmer verbannt; im Hintergrunde, zur rechten Seite des Bettes, gewährt eine offne Thüre die Aussicht ins Freie; zur linken steht ein Altar, mit dem Bilde Moses und Aarons. Ehrfurchtsvolle Stille herrscht unter den, um die Mutter ihres Herrn versammelten Aposteln; Hoffnung erhebt ihren Schmerz zur seligsten Wehmuth. Zwei von ihnen beten leise am Fenster, die übrigen stehen, in mannichfaltige Gruppen geordnet, dem Bette näher, an dessen Hauptende zur Rechten desselben Petrus so eben einige erhebende Worte an seine Brüder gerichtet zu haben scheint. Johannes steht in Weh- muth versunken, einer der Apostel schwingt den Weihrauchkessel zu den Füßen des Bettes. Der mannichfaltigste Ausdruck tiefen Schmerzes belebt
Marias Geſicht gleicht einer weißen Roſe, die ein ätheriſcher röthlicher Hauch kaum ſichtbar färbt. Ein leiſes ſeliges Lächeln umſchwebt die noch im Tode friſchblühenden Lippen des ſchönen Mundes, und die gewölbten Augenlieder ſcheinen wie vor Wonne über das blendende Licht des Paradieſes geſchloſſen. Alles drückende, beängſtigende iſt aus dieſem Sterbe- zimmer verbannt; im Hintergrunde, zur rechten Seite des Bettes, gewährt eine offne Thüre die Ausſicht ins Freie; zur linken ſteht ein Altar, mit dem Bilde Moſes und Aarons. Ehrfurchtsvolle Stille herrſcht unter den, um die Mutter ihres Herrn verſammelten Apoſteln; Hoffnung erhebt ihren Schmerz zur ſeligſten Wehmuth. Zwei von ihnen beten leiſe am Fenſter, die übrigen ſtehen, in mannichfaltige Gruppen geordnet, dem Bette näher, an deſſen Hauptende zur Rechten deſſelben Petrus ſo eben einige erhebende Worte an ſeine Brüder gerichtet zu haben ſcheint. Johannes ſteht in Weh- muth verſunken, einer der Apoſtel ſchwingt den Weihrauchkeſſel zu den Füßen des Bettes. Der mannichfaltigſte Ausdruck tiefen Schmerzes belebt
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Marias Geſicht gleicht einer weißen Roſe, die ein
ätheriſcher röthlicher Hauch kaum ſichtbar färbt. Ein
leiſes ſeliges Lächeln umſchwebt die noch im Tode
friſchblühenden Lippen des ſchönen Mundes, und
die gewölbten Augenlieder ſcheinen wie vor Wonne
über das blendende Licht des Paradieſes geſchloſſen.
Alles drückende, beängſtigende iſt aus dieſem Sterbe-
zimmer verbannt; im Hintergrunde, zur rechten
Seite des Bettes, gewährt eine offne Thüre die
Ausſicht ins Freie; zur linken ſteht ein Altar, mit
dem Bilde Moſes und Aarons. Ehrfurchtsvolle
Stille herrſcht unter den, um die Mutter ihres
Herrn verſammelten Apoſteln; Hoffnung erhebt
ihren Schmerz zur ſeligſten Wehmuth. Zwei von
ihnen beten leiſe am Fenſter, die übrigen ſtehen, in
mannichfaltige Gruppen geordnet, dem Bette näher,
an deſſen Hauptende zur Rechten deſſelben Petrus
ſo eben einige erhebende Worte an ſeine Brüder
gerichtet zu haben ſcheint. Johannes ſteht in Weh-
muth verſunken, einer der Apoſtel ſchwingt den
Weihrauchkeſſel zu den Füßen des Bettes. Der
mannichfaltigſte Ausdruck tiefen Schmerzes belebt
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Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1822, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822/95>, abgerufen am 16.02.2025.
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