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Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 1. Jena, 1846.

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-- "Er soll es haben! Jch will nicht von der
Erde scheiden, ohne daß ein Mensch erfährt, wie ich
gesündigt, was gelitten, wie gebüßt habe! Sanftes
Mitleid liegt in seinen Gesichtszügen, seinen Augen,
wenn er auf mich Unglückselige blickt: er wird mich
nicht verdammen, trotz meiner Schuld -- er wird für
mich zu Gott beten und mir eine Thräne schenken auf
mein frühes Grab! Diese Güte, diese Theilnahme
waren die letzten Sonnenblicke auf mein versinkendes
Leben -- o, wie dankt ihm mein Herz dafür!"

Darauf verstummte sie, öffnete den Umschlag, in
dem die Papiere enthalten waren, legte die Blätter
aus einander und zählte sie, aber nicht laut, sondern
nur, indem sie die Lippen bewegte. Als sie damit
fertig war, legte sie sie wieder zusammen und in
den Umschlag zurück.

-- "Ja," fuhr sie, das Haupt erhebend, mit
gleichsam entschlossenem Tone fort, "er soll, er muß
Alles wissen! Jch bin es ihm schuldig, daß ich ihn
warne, rette, ihn errette aus dieser Mörderhöhle! --
Ha, wie sie schillert, wie sie glänzt, wie sie zün-
gelt, die gleißnerische Schlange, wie den Augenblick
ablauert, ihm den Giftzahn in das unbeschützte Herz
zu drücken! -- Es wird ihr aber nicht gelingen, ihn
zu berücken: er ist ihr zu klug, er durchschaut die
Buhlerin -- und ich bin ja auch noch da!"

— „Er ſoll es haben! Jch will nicht von der
Erde ſcheiden, ohne daß ein Menſch erfährt, wie ich
geſündigt, was gelitten, wie gebüßt habe! Sanftes
Mitleid liegt in ſeinen Geſichtszügen, ſeinen Augen,
wenn er auf mich Unglückſelige blickt: er wird mich
nicht verdammen, trotz meiner Schuld — er wird für
mich zu Gott beten und mir eine Thräne ſchenken auf
mein frühes Grab! Dieſe Güte, dieſe Theilnahme
waren die letzten Sonnenblicke auf mein verſinkendes
Leben — o, wie dankt ihm mein Herz dafür!“

Darauf verſtummte ſie, öffnete den Umſchlag, in
dem die Papiere enthalten waren, legte die Blätter
aus einander und zählte ſie, aber nicht laut, ſondern
nur, indem ſie die Lippen bewegte. Als ſie damit
fertig war, legte ſie ſie wieder zuſammen und in
den Umſchlag zurück.

— „Ja,“ fuhr ſie, das Haupt erhebend, mit
gleichſam entſchloſſenem Tone fort, „er ſoll, er muß
Alles wiſſen! Jch bin es ihm ſchuldig, daß ich ihn
warne, rette, ihn errette aus dieſer Mörderhöhle! —
Ha, wie ſie ſchillert, wie ſie glänzt, wie ſie zün-
gelt, die gleißneriſche Schlange, wie den Augenblick
ablauert, ihm den Giftzahn in das unbeſchützte Herz
zu drücken! — Es wird ihr aber nicht gelingen, ihn
zu berücken: er iſt ihr zu klug, er durchſchaut die
Buhlerin — und ich bin ja auch noch da!“

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[174/0182] — „Er ſoll es haben! Jch will nicht von der Erde ſcheiden, ohne daß ein Menſch erfährt, wie ich geſündigt, was gelitten, wie gebüßt habe! Sanftes Mitleid liegt in ſeinen Geſichtszügen, ſeinen Augen, wenn er auf mich Unglückſelige blickt: er wird mich nicht verdammen, trotz meiner Schuld — er wird für mich zu Gott beten und mir eine Thräne ſchenken auf mein frühes Grab! Dieſe Güte, dieſe Theilnahme waren die letzten Sonnenblicke auf mein verſinkendes Leben — o, wie dankt ihm mein Herz dafür!“ Darauf verſtummte ſie, öffnete den Umſchlag, in dem die Papiere enthalten waren, legte die Blätter aus einander und zählte ſie, aber nicht laut, ſondern nur, indem ſie die Lippen bewegte. Als ſie damit fertig war, legte ſie ſie wieder zuſammen und in den Umſchlag zurück. — „Ja,“ fuhr ſie, das Haupt erhebend, mit gleichſam entſchloſſenem Tone fort, „er ſoll, er muß Alles wiſſen! Jch bin es ihm ſchuldig, daß ich ihn warne, rette, ihn errette aus dieſer Mörderhöhle! — Ha, wie ſie ſchillert, wie ſie glänzt, wie ſie zün- gelt, die gleißneriſche Schlange, wie den Augenblick ablauert, ihm den Giftzahn in das unbeſchützte Herz zu drücken! — Es wird ihr aber nicht gelingen, ihn zu berücken: er iſt ihr zu klug, er durchſchaut die Buhlerin — und ich bin ja auch noch da!“

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Zitationshilfe: Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 1. Jena, 1846, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet01_1846/182>, abgerufen am 15.05.2024.