Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 2. Jena, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

noch schlimmer, Einige bevorzugt, Andere beeinträch-
tigt werden. Bei uns gehört Alles Allen an und
Jeder nimmt sich, was er eben zur Nothdurft bedarf.
Bin ich heute glücklicher auf der Jagd gewesen, als
einer meiner Brüder, so setzt er sich mit zu meinem
Mahle, und morgen setze ich mich vielleicht zu dem
seinigen: so wird Alles jeden Tag satt, und Armuth
kennen wir nicht, weil es nur da Arme geben kann,
wo es Reiche giebt. Und aus welchem Grunde, ich
frage dich, soll der Eine mehr haben, als der An-
dere? da Alle auf gleiche Weise geboren werden und
zu gleichen Ansprüchen berechtigt sind. Beantworte
mir diese Frage, wenn du es vermagst, denn meine
Einsicht ist schwach, ich weiß es, und ich mag mich
gern belehren lassen."

-- "Jch kann deiner Ansicht nicht widerspre-
chen," versetzte Arnold mit einem Seufzer, denn der
Wilde hatte in seiner Einfalt den wunden Fleck un-
serer socialen Verhältnisse so gut getroffen, daß er
ihn nicht zu widerlegen vermochte, und was er ihm
etwa darüber hätte sagen, womit diese Mißstände viel-
leicht entschuldigen können, würde nicht von ihm ver-
standen worden seyn.

-- "Wenn du mir in Dem, was ich eben sagte,
Recht giebst," fuhr der große Pelikan fort; "wenn
die Bleichgesichter nicht so frei, so reich, so glücklich

noch ſchlimmer, Einige bevorzugt, Andere beeinträch-
tigt werden. Bei uns gehört Alles Allen an und
Jeder nimmt ſich, was er eben zur Nothdurft bedarf.
Bin ich heute glücklicher auf der Jagd geweſen, als
einer meiner Brüder, ſo ſetzt er ſich mit zu meinem
Mahle, und morgen ſetze ich mich vielleicht zu dem
ſeinigen: ſo wird Alles jeden Tag ſatt, und Armuth
kennen wir nicht, weil es nur da Arme geben kann,
wo es Reiche giebt. Und aus welchem Grunde, ich
frage dich, ſoll der Eine mehr haben, als der An-
dere? da Alle auf gleiche Weiſe geboren werden und
zu gleichen Anſprüchen berechtigt ſind. Beantworte
mir dieſe Frage, wenn du es vermagſt, denn meine
Einſicht iſt ſchwach, ich weiß es, und ich mag mich
gern belehren laſſen.“

— „Jch kann deiner Anſicht nicht widerſpre-
chen,“ verſetzte Arnold mit einem Seufzer, denn der
Wilde hatte in ſeiner Einfalt den wunden Fleck un-
ſerer ſocialen Verhältniſſe ſo gut getroffen, daß er
ihn nicht zu widerlegen vermochte, und was er ihm
etwa darüber hätte ſagen, womit dieſe Mißſtände viel-
leicht entſchuldigen können, würde nicht von ihm ver-
ſtanden worden ſeyn.

— „Wenn du mir in Dem, was ich eben ſagte,
Recht giebſt,“ fuhr der große Pelikan fort; „wenn
die Bleichgeſichter nicht ſo frei, ſo reich, ſo glücklich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0034" n="28"/>
noch &#x017F;chlimmer, Einige bevorzugt, Andere beeinträch-<lb/>
tigt werden. Bei uns gehört Alles Allen an und<lb/>
Jeder nimmt &#x017F;ich, was er eben zur Nothdurft bedarf.<lb/>
Bin ich heute glücklicher auf der Jagd gewe&#x017F;en, als<lb/>
einer meiner Brüder, &#x017F;o &#x017F;etzt er &#x017F;ich mit zu meinem<lb/>
Mahle, und morgen &#x017F;etze ich mich vielleicht zu dem<lb/>
&#x017F;einigen: &#x017F;o wird Alles jeden Tag &#x017F;att, und Armuth<lb/>
kennen wir nicht, weil es nur da Arme geben kann,<lb/>
wo es Reiche giebt. Und aus welchem Grunde, ich<lb/>
frage dich, &#x017F;oll der Eine mehr haben, als der An-<lb/>
dere? da Alle auf gleiche Wei&#x017F;e geboren werden und<lb/>
zu gleichen An&#x017F;prüchen berechtigt &#x017F;ind. Beantworte<lb/>
mir die&#x017F;e Frage, wenn du es vermag&#x017F;t, denn meine<lb/>
Ein&#x017F;icht i&#x017F;t &#x017F;chwach, ich weiß es, und ich mag mich<lb/>
gern belehren la&#x017F;&#x017F;en.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x2014; &#x201E;Jch kann deiner An&#x017F;icht nicht wider&#x017F;pre-<lb/>
chen,&#x201C; ver&#x017F;etzte Arnold mit einem Seufzer, denn der<lb/>
Wilde hatte in &#x017F;einer Einfalt den wunden Fleck un-<lb/>
&#x017F;erer &#x017F;ocialen Verhältni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;o gut getroffen, daß er<lb/>
ihn nicht zu widerlegen vermochte, und was er ihm<lb/>
etwa darüber hätte &#x017F;agen, womit die&#x017F;e Miß&#x017F;tände viel-<lb/>
leicht ent&#x017F;chuldigen können, würde nicht von ihm ver-<lb/>
&#x017F;tanden worden &#x017F;eyn.</p><lb/>
        <p>&#x2014; &#x201E;Wenn du mir in Dem, was ich eben &#x017F;agte,<lb/>
Recht gieb&#x017F;t,&#x201C; fuhr der große Pelikan fort; &#x201E;wenn<lb/>
die Bleichge&#x017F;ichter nicht &#x017F;o frei, &#x017F;o reich, &#x017F;o glücklich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0034] noch ſchlimmer, Einige bevorzugt, Andere beeinträch- tigt werden. Bei uns gehört Alles Allen an und Jeder nimmt ſich, was er eben zur Nothdurft bedarf. Bin ich heute glücklicher auf der Jagd geweſen, als einer meiner Brüder, ſo ſetzt er ſich mit zu meinem Mahle, und morgen ſetze ich mich vielleicht zu dem ſeinigen: ſo wird Alles jeden Tag ſatt, und Armuth kennen wir nicht, weil es nur da Arme geben kann, wo es Reiche giebt. Und aus welchem Grunde, ich frage dich, ſoll der Eine mehr haben, als der An- dere? da Alle auf gleiche Weiſe geboren werden und zu gleichen Anſprüchen berechtigt ſind. Beantworte mir dieſe Frage, wenn du es vermagſt, denn meine Einſicht iſt ſchwach, ich weiß es, und ich mag mich gern belehren laſſen.“ — „Jch kann deiner Anſicht nicht widerſpre- chen,“ verſetzte Arnold mit einem Seufzer, denn der Wilde hatte in ſeiner Einfalt den wunden Fleck un- ſerer ſocialen Verhältniſſe ſo gut getroffen, daß er ihn nicht zu widerlegen vermochte, und was er ihm etwa darüber hätte ſagen, womit dieſe Mißſtände viel- leicht entſchuldigen können, würde nicht von ihm ver- ſtanden worden ſeyn. — „Wenn du mir in Dem, was ich eben ſagte, Recht giebſt,“ fuhr der große Pelikan fort; „wenn die Bleichgeſichter nicht ſo frei, ſo reich, ſo glücklich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet02_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet02_1846/34
Zitationshilfe: Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 2. Jena, 1846, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet02_1846/34>, abgerufen am 23.11.2024.