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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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2.--7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINER WÄRTERIN.

Ein wichtiges, dem Kinde dieses Alters wahrhaft unent-
behrliches Unterhaltungs- und Bildungsmittel, welches am
meisten im Bereiche der Wärterin liegt, ist das Erzählen
und Erzählenlassen. Fühlt sich doch der Mensch in jedem
Lebensalter durch Erzählungen, wenn sie gut nach Form und
Inhalt sind, eigenthümlich angezogen, wie sollte nicht das Kind
auf das Lebhafteste sich dafür interessiren, da es ja bei der
Kürze seiner Vergangenheit noch den vollsten Durst nach
Aufnahme von Gedanken- und Lebensbildern in sich fühlt! Aber
eben diese stete, fast gierige Bereitwilligkeit der Kinder zum
Anhören von Erzählungen aller Art macht grosse Vorsicht in
der Wahl des Stoffes nöthig. Das gute wie das schlechte Sa-
menkorn wird gleicher Weise von diesem nach allen Seiten
hin offenen Boden aufgenommen.

Unbegreiflich ist es, wie die Ansicht, dass Fabeln und
Mährchen eine passende Geistesspeise für das zarte Kindes-
alter seien, noch bis auf den heutigen Tag sich erhalten und
sogar von vielen Pädagogen in Wort und Schrift immerfort
als richtig festgehalten werden konnte. Die richtige, dem
Geiste wahrhaft gedeihliche Auffassung dieser Art von Erzäh-
lungen ist nur möglich bei einem gewissen Grade von Selb-
ständigkeit des Denkens, wie er in der Regel in Ansehung der
Fabeln nicht vor dem 9. oder 10., in Ansehung der Mähr-
chen nicht vor dem 12.--14. Jahre erreicht wird. Bei soweit
gereiften Kindern erst sind beide Arten von Erzählungen an
der Zeit. Das Kind hat in den ersten Jahren des erwachten
Selbstbewusstseins noch genug zu thun mit Erfassung und Zu-
rechtlegung der Wirklichkeit. Es muss erst den Boden der
Wirklichkeit sicher unter den Füssen haben und immer leicht
wiederfinden können, bevor es kleine Ausflüge in die dichte-
rische Gedankenwelt (für welche überdies das Verständniss
der Schönheit sich erst später entwickelt) ohne Gefahr der
Verirrung unternehmen darf. Fabeln und Mährchen bringen
in dieser Altersstufe Unsicherheit und Verwirrung in die ohne-
hin noch lockeren Begriffe. Wenn die Kinder in ihren Spie-
len, wie sie es so gern thun, menschliche Figuren redend
einführen, so darf daraus kein Beweis für die Zuträglichkeit

2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINER WÄRTERIN.

Ein wichtiges, dem Kinde dieses Alters wahrhaft unent-
behrliches Unterhaltungs- und Bildungsmittel, welches am
meisten im Bereiche der Wärterin liegt, ist das Erzählen
und Erzählenlassen. Fühlt sich doch der Mensch in jedem
Lebensalter durch Erzählungen, wenn sie gut nach Form und
Inhalt sind, eigenthümlich angezogen, wie sollte nicht das Kind
auf das Lebhafteste sich dafür interessiren, da es ja bei der
Kürze seiner Vergangenheit noch den vollsten Durst nach
Aufnahme von Gedanken- und Lebensbildern in sich fühlt! Aber
eben diese stete, fast gierige Bereitwilligkeit der Kinder zum
Anhören von Erzählungen aller Art macht grosse Vorsicht in
der Wahl des Stoffes nöthig. Das gute wie das schlechte Sa-
menkorn wird gleicher Weise von diesem nach allen Seiten
hin offenen Boden aufgenommen.

Unbegreiflich ist es, wie die Ansicht, dass Fabeln und
Mährchen eine passende Geistesspeise für das zarte Kindes-
alter seien, noch bis auf den heutigen Tag sich erhalten und
sogar von vielen Pädagogen in Wort und Schrift immerfort
als richtig festgehalten werden konnte. Die richtige, dem
Geiste wahrhaft gedeihliche Auffassung dieser Art von Erzäh-
lungen ist nur möglich bei einem gewissen Grade von Selb-
ständigkeit des Denkens, wie er in der Regel in Ansehung der
Fabeln nicht vor dem 9. oder 10., in Ansehung der Mähr-
chen nicht vor dem 12.—14. Jahre erreicht wird. Bei soweit
gereiften Kindern erst sind beide Arten von Erzählungen an
der Zeit. Das Kind hat in den ersten Jahren des erwachten
Selbstbewusstseins noch genug zu thun mit Erfassung und Zu-
rechtlegung der Wirklichkeit. Es muss erst den Boden der
Wirklichkeit sicher unter den Füssen haben und immer leicht
wiederfinden können, bevor es kleine Ausflüge in die dichte-
rische Gedankenwelt (für welche überdies das Verständniss
der Schönheit sich erst später entwickelt) ohne Gefahr der
Verirrung unternehmen darf. Fabeln und Mährchen bringen
in dieser Altersstufe Unsicherheit und Verwirrung in die ohne-
hin noch lockeren Begriffe. Wenn die Kinder in ihren Spie-
len, wie sie es so gern thun, menschliche Figuren redend
einführen, so darf daraus kein Beweis für die Zuträglichkeit

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[123/0127] 2.—7. JAHR. GEISTIGE SEITE. DAS KIND MIT SEINER WÄRTERIN. Ein wichtiges, dem Kinde dieses Alters wahrhaft unent- behrliches Unterhaltungs- und Bildungsmittel, welches am meisten im Bereiche der Wärterin liegt, ist das Erzählen und Erzählenlassen. Fühlt sich doch der Mensch in jedem Lebensalter durch Erzählungen, wenn sie gut nach Form und Inhalt sind, eigenthümlich angezogen, wie sollte nicht das Kind auf das Lebhafteste sich dafür interessiren, da es ja bei der Kürze seiner Vergangenheit noch den vollsten Durst nach Aufnahme von Gedanken- und Lebensbildern in sich fühlt! Aber eben diese stete, fast gierige Bereitwilligkeit der Kinder zum Anhören von Erzählungen aller Art macht grosse Vorsicht in der Wahl des Stoffes nöthig. Das gute wie das schlechte Sa- menkorn wird gleicher Weise von diesem nach allen Seiten hin offenen Boden aufgenommen. Unbegreiflich ist es, wie die Ansicht, dass Fabeln und Mährchen eine passende Geistesspeise für das zarte Kindes- alter seien, noch bis auf den heutigen Tag sich erhalten und sogar von vielen Pädagogen in Wort und Schrift immerfort als richtig festgehalten werden konnte. Die richtige, dem Geiste wahrhaft gedeihliche Auffassung dieser Art von Erzäh- lungen ist nur möglich bei einem gewissen Grade von Selb- ständigkeit des Denkens, wie er in der Regel in Ansehung der Fabeln nicht vor dem 9. oder 10., in Ansehung der Mähr- chen nicht vor dem 12.—14. Jahre erreicht wird. Bei soweit gereiften Kindern erst sind beide Arten von Erzählungen an der Zeit. Das Kind hat in den ersten Jahren des erwachten Selbstbewusstseins noch genug zu thun mit Erfassung und Zu- rechtlegung der Wirklichkeit. Es muss erst den Boden der Wirklichkeit sicher unter den Füssen haben und immer leicht wiederfinden können, bevor es kleine Ausflüge in die dichte- rische Gedankenwelt (für welche überdies das Verständniss der Schönheit sich erst später entwickelt) ohne Gefahr der Verirrung unternehmen darf. Fabeln und Mährchen bringen in dieser Altersstufe Unsicherheit und Verwirrung in die ohne- hin noch lockeren Begriffe. Wenn die Kinder in ihren Spie- len, wie sie es so gern thun, menschliche Figuren redend einführen, so darf daraus kein Beweis für die Zuträglichkeit

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/127>, abgerufen am 21.11.2024.