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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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17. -- 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE.
nen würde -- gar leicht irre, die Richtung, trotz der inneren
Erkenntniss derselben, gar leicht verloren. Die bunten, in
unendlichem Wechsel sich durchkreuzenden Wogen des Le-
bens, die massenweise abweichenden Beispiele anderer Men-
schen reissen fort, bald hierhin, bald dahin. Gilt es eigne
Proben der Erkenntniss zu bestehen, so fallen diese oft ganz
anders aus, als man erwarten sollte.

Man hört Viel von Streben nach geistiger Veredelung,
geistiger Freiheit, Selbsterkenntniss und Selbstbeherrschung
reden. Blickt man aber tiefer in's Leben, des Einzelnen wie
des Ganzen, so stimmen die Ergebnisse dieser Umschau gar
nicht damit überein. Unmöglich kann daher das richtige
Verständniss jener Begriffe ein sehr allgemeines sein. Kein
Wunder daher, wenn es der Jugend mangelt.

Diese wohl allerwärts zu machende Erfahrung legt es der
älterlichen Fürsorge als Pflicht auf, den jungen Menschen vor
seinem Eintritte in's grosse Leben jene hochwichtigen Begriffe
durch Beispiele des gewöhnlichen täglichen Lebens recht
klar, so zu sagen, handgreiflich zu machen. Eine blosse
Auffassung derselben in ihrer abstracten Allgemeinheit ge-
nügt nicht.

Wir wollen als Anschauung für die Aufklärung des Be-
griffes "geistige Freiheit" beispielsweise den Gang eines ge-
wöhnlichen Tages verfolgen:

Du erwachst des Morgens zur gewohnten Stunde.
Eine bleierne Müdigkeit liegt noch in Deinen Gliedern.
Es kommt auf ein halbes Stündchen nicht an. Die
süsse Trägheit lockt. Allein, Du denkst an Deine
grundsätzliche Regel des Aufstehens zur bestimmten
Stunde und an die Gefährdung dieser Regel durch Zu-
lass einer Ausnahme. Du raffst Dich auf und gehst
frisch und frei an Dein Tagewerk.

Bald aber treten Dir einige unerwartete und ver-
driessliche Zwischenfälle in den Weg. Du bist nahe
daran von einer unwilligen Stimmung beschlichen zu
werden und dieselbe Deiner unschuldigen Umgebung
empfinden zu lassen. Doch ein geistiger Schwung

17. — 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE.
nen würde — gar leicht irre, die Richtung, trotz der inneren
Erkenntniss derselben, gar leicht verloren. Die bunten, in
unendlichem Wechsel sich durchkreuzenden Wogen des Le-
bens, die massenweise abweichenden Beispiele anderer Men-
schen reissen fort, bald hierhin, bald dahin. Gilt es eigne
Proben der Erkenntniss zu bestehen, so fallen diese oft ganz
anders aus, als man erwarten sollte.

Man hört Viel von Streben nach geistiger Veredelung,
geistiger Freiheit, Selbsterkenntniss und Selbstbeherrschung
reden. Blickt man aber tiefer in's Leben, des Einzelnen wie
des Ganzen, so stimmen die Ergebnisse dieser Umschau gar
nicht damit überein. Unmöglich kann daher das richtige
Verständniss jener Begriffe ein sehr allgemeines sein. Kein
Wunder daher, wenn es der Jugend mangelt.

Diese wohl allerwärts zu machende Erfahrung legt es der
älterlichen Fürsorge als Pflicht auf, den jungen Menschen vor
seinem Eintritte in's grosse Leben jene hochwichtigen Begriffe
durch Beispiele des gewöhnlichen täglichen Lebens recht
klar, so zu sagen, handgreiflich zu machen. Eine blosse
Auffassung derselben in ihrer abstracten Allgemeinheit ge-
nügt nicht.

Wir wollen als Anschauung für die Aufklärung des Be-
griffes „geistige Freiheit“ beispielsweise den Gang eines ge-
wöhnlichen Tages verfolgen:

Du erwachst des Morgens zur gewohnten Stunde.
Eine bleierne Müdigkeit liegt noch in Deinen Gliedern.
Es kommt auf ein halbes Stündchen nicht an. Die
süsse Trägheit lockt. Allein, Du denkst an Deine
grundsätzliche Regel des Aufstehens zur bestimmten
Stunde und an die Gefährdung dieser Regel durch Zu-
lass einer Ausnahme. Du raffst Dich auf und gehst
frisch und frei an Dein Tagewerk.

Bald aber treten Dir einige unerwartete und ver-
driessliche Zwischenfälle in den Weg. Du bist nahe
daran von einer unwilligen Stimmung beschlichen zu
werden und dieselbe Deiner unschuldigen Umgebung
empfinden zu lassen. Doch ein geistiger Schwung

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[284/0288] 17. — 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE. nen würde — gar leicht irre, die Richtung, trotz der inneren Erkenntniss derselben, gar leicht verloren. Die bunten, in unendlichem Wechsel sich durchkreuzenden Wogen des Le- bens, die massenweise abweichenden Beispiele anderer Men- schen reissen fort, bald hierhin, bald dahin. Gilt es eigne Proben der Erkenntniss zu bestehen, so fallen diese oft ganz anders aus, als man erwarten sollte. Man hört Viel von Streben nach geistiger Veredelung, geistiger Freiheit, Selbsterkenntniss und Selbstbeherrschung reden. Blickt man aber tiefer in's Leben, des Einzelnen wie des Ganzen, so stimmen die Ergebnisse dieser Umschau gar nicht damit überein. Unmöglich kann daher das richtige Verständniss jener Begriffe ein sehr allgemeines sein. Kein Wunder daher, wenn es der Jugend mangelt. Diese wohl allerwärts zu machende Erfahrung legt es der älterlichen Fürsorge als Pflicht auf, den jungen Menschen vor seinem Eintritte in's grosse Leben jene hochwichtigen Begriffe durch Beispiele des gewöhnlichen täglichen Lebens recht klar, so zu sagen, handgreiflich zu machen. Eine blosse Auffassung derselben in ihrer abstracten Allgemeinheit ge- nügt nicht. Wir wollen als Anschauung für die Aufklärung des Be- griffes „geistige Freiheit“ beispielsweise den Gang eines ge- wöhnlichen Tages verfolgen: Du erwachst des Morgens zur gewohnten Stunde. Eine bleierne Müdigkeit liegt noch in Deinen Gliedern. Es kommt auf ein halbes Stündchen nicht an. Die süsse Trägheit lockt. Allein, Du denkst an Deine grundsätzliche Regel des Aufstehens zur bestimmten Stunde und an die Gefährdung dieser Regel durch Zu- lass einer Ausnahme. Du raffst Dich auf und gehst frisch und frei an Dein Tagewerk. Bald aber treten Dir einige unerwartete und ver- driessliche Zwischenfälle in den Weg. Du bist nahe daran von einer unwilligen Stimmung beschlichen zu werden und dieselbe Deiner unschuldigen Umgebung empfinden zu lassen. Doch ein geistiger Schwung

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/288>, abgerufen am 21.11.2024.