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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858.

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17. -- 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE.
hebt Dich hindurch und darüber hinweg: Du hast
Deine Heiterkeit und innere Freiheit wieder.

Im Laufe des Tagewerkes hat Dir ein Genosse bit-
teres Unrecht gethan. Du hast Dich dagegen gerecht-
fertigt, Deine Ehre und Dein Recht sind also bereits
gewahrt. Allein die Kränkung war der Art, dass der
Gegner eine weitere leidenschaftliche Auslassung und
ein längeres Grollen Deinerseits wohl verdient hätte.
Deine Aufregung drängt Dich dazu. Doch Du kämpfst
sie sofort nieder, die edle Richtung siegt, Du ergreifst
die dargebotene Versöhnungshand -- Du bist frei.

Du bist Mittags in fröhlicher Gesellschaft. Alles
vereinigt sich -- innere Neigung, äussere Anregung --
im Genusse die Schranke des Maasses einmal ganz un-
beachtet zu lassen. Es ist dies eine Neigung, die zu
zügeln Dir gerade besonders schwer fällt. Allein Du
ermannst Dich, erhältst Dich auf dem edlen Höhe-
punkte des Genusses und -- bleibst frei.

Du hattest Dir auf heute eine Arbeit vorgenommen.
Ihr Anfang macht Dir aber einige Schwierigkeiten.
Sie ist nicht gerade dringend. Du schwankst, ob Du
sie nicht bis morgen verschieben sollst. Doch Du
denkst an Deinen Vorsatz, gehst kräftig daran und --
hast Dich abermals der Fessel einer Schwäche ent-
wunden.

Du befindest Dich Abends im stillen, trauten Freun-
deskreise. Allgemein wird Dein längeres Verweilen
gewünscht. Daheim wartet Deiner aber noch eine
kleine Besorgung. Ihre Erledigung ist für die Deini-
gen zwar nicht eben nothwendig, aber doch wünschens-
werth. Die Trennung von dem Freundeskreise wird
Dir gerade heute recht schwer. Aber Du reissest
Dich los und fühlst Dich durch die innere Freiheit
entschädigt.

Schon aus diesen flüchtig hingeworfenen Beispielen ist
ersichtlich, wie jeder Tag, ja fast jeder Augenblick die Auffor-
derung zur Bewährung des geistig freien Zustandes mit sich

17. — 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE.
hebt Dich hindurch und darüber hinweg: Du hast
Deine Heiterkeit und innere Freiheit wieder.

Im Laufe des Tagewerkes hat Dir ein Genosse bit-
teres Unrecht gethan. Du hast Dich dagegen gerecht-
fertigt, Deine Ehre und Dein Recht sind also bereits
gewahrt. Allein die Kränkung war der Art, dass der
Gegner eine weitere leidenschaftliche Auslassung und
ein längeres Grollen Deinerseits wohl verdient hätte.
Deine Aufregung drängt Dich dazu. Doch Du kämpfst
sie sofort nieder, die edle Richtung siegt, Du ergreifst
die dargebotene Versöhnungshand — Du bist frei.

Du bist Mittags in fröhlicher Gesellschaft. Alles
vereinigt sich — innere Neigung, äussere Anregung —
im Genusse die Schranke des Maasses einmal ganz un-
beachtet zu lassen. Es ist dies eine Neigung, die zu
zügeln Dir gerade besonders schwer fällt. Allein Du
ermannst Dich, erhältst Dich auf dem edlen Höhe-
punkte des Genusses und — bleibst frei.

Du hattest Dir auf heute eine Arbeit vorgenommen.
Ihr Anfang macht Dir aber einige Schwierigkeiten.
Sie ist nicht gerade dringend. Du schwankst, ob Du
sie nicht bis morgen verschieben sollst. Doch Du
denkst an Deinen Vorsatz, gehst kräftig daran und —
hast Dich abermals der Fessel einer Schwäche ent-
wunden.

Du befindest Dich Abends im stillen, trauten Freun-
deskreise. Allgemein wird Dein längeres Verweilen
gewünscht. Daheim wartet Deiner aber noch eine
kleine Besorgung. Ihre Erledigung ist für die Deini-
gen zwar nicht eben nothwendig, aber doch wünschens-
werth. Die Trennung von dem Freundeskreise wird
Dir gerade heute recht schwer. Aber Du reissest
Dich los und fühlst Dich durch die innere Freiheit
entschädigt.

Schon aus diesen flüchtig hingeworfenen Beispielen ist
ersichtlich, wie jeder Tag, ja fast jeder Augenblick die Auffor-
derung zur Bewährung des geistig freien Zustandes mit sich

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[285/0289] 17. — 20. JAHR. ÜBERGANG ZUR SELBSTÄNDIGKEIT. GEISTIGE SEITE. hebt Dich hindurch und darüber hinweg: Du hast Deine Heiterkeit und innere Freiheit wieder. Im Laufe des Tagewerkes hat Dir ein Genosse bit- teres Unrecht gethan. Du hast Dich dagegen gerecht- fertigt, Deine Ehre und Dein Recht sind also bereits gewahrt. Allein die Kränkung war der Art, dass der Gegner eine weitere leidenschaftliche Auslassung und ein längeres Grollen Deinerseits wohl verdient hätte. Deine Aufregung drängt Dich dazu. Doch Du kämpfst sie sofort nieder, die edle Richtung siegt, Du ergreifst die dargebotene Versöhnungshand — Du bist frei. Du bist Mittags in fröhlicher Gesellschaft. Alles vereinigt sich — innere Neigung, äussere Anregung — im Genusse die Schranke des Maasses einmal ganz un- beachtet zu lassen. Es ist dies eine Neigung, die zu zügeln Dir gerade besonders schwer fällt. Allein Du ermannst Dich, erhältst Dich auf dem edlen Höhe- punkte des Genusses und — bleibst frei. Du hattest Dir auf heute eine Arbeit vorgenommen. Ihr Anfang macht Dir aber einige Schwierigkeiten. Sie ist nicht gerade dringend. Du schwankst, ob Du sie nicht bis morgen verschieben sollst. Doch Du denkst an Deinen Vorsatz, gehst kräftig daran und — hast Dich abermals der Fessel einer Schwäche ent- wunden. Du befindest Dich Abends im stillen, trauten Freun- deskreise. Allgemein wird Dein längeres Verweilen gewünscht. Daheim wartet Deiner aber noch eine kleine Besorgung. Ihre Erledigung ist für die Deini- gen zwar nicht eben nothwendig, aber doch wünschens- werth. Die Trennung von dem Freundeskreise wird Dir gerade heute recht schwer. Aber Du reissest Dich los und fühlst Dich durch die innere Freiheit entschädigt. Schon aus diesen flüchtig hingeworfenen Beispielen ist ersichtlich, wie jeder Tag, ja fast jeder Augenblick die Auffor- derung zur Bewährung des geistig freien Zustandes mit sich

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Zitationshilfe: Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/289>, abgerufen am 21.11.2024.