1. JAHR. KÖRPERL. SEITE. KÖRPER-FORM. HALTUNGEN U. GEWOHNHEITEN.
Fehlern der Körperform grösstentheils in liegender Stellung erhalten werden.
Eine häufige Veranlassung zu Bildungsfehlern ist das ein- seitige Tragen der Kinder auf dem Arme. Schon ein oberflächlicher Blick auf das Verhalten des kindlichen Körpers in der auf dem Arme der Wärterin sitzenden Stellung wird hinreichen, um einen solchen Einfluss begreiflich zu machen. Das Kind ist mit seiner einen Körperseite an den Körper der Wärterin angedrückt. An dieser Seite werden die wichtigsten Functionen: Blutumlauf, Athmungsbewegung, Ernährung u. s. w., mehr oder weniger beeinträchtigt. Das Kind sitzt mit schiefer Hüfte auf. Der Schwerpunkt fällt daher nicht in die Mittel- linie des Körpers, sondern nach der inneren Seite zu, nach welcher nun das Rückgrat in entsprechendem Grade sich aus- biegt. Die innere Schulter wird dadurch, dass das Kind ver- möge seiner Situation genöthigt wird, den Arm dieser Seite mehr oder weniger aufzustemmen, gegen die andere Schulter merklich gehoben, dagegen nur dem Arme der äusseren Seite die Möglichkeit freier Bewegung geboten. Es leuchtet ein, dass, wenn immer dieselbe ungleichseitige Körperhaltung sich täglich und stundenlang wiederholt, sie um so leichter zu einer bleibenden ungleichseitigen Körperbildung werden muss, je jünger, zarter und umbildbarer der Körper ist. Ich habe oft Gelegenheit, solche Fälle zu beobachten, in denen die Form der Körperverbildung genau der Haltung entspricht, wie sie beim Tragen auf einer Seite die gewöhnliche ist -- eine deutliche Bestätigung des nachtheiligen Einflusses derartiger Gewohn- heiten. Ja es wird sogar dieser einseitige Druck zuweilen die Entstehungsursache von Lähmung des entsprechenden Ar- mes oder Fusses.
Die Veranlassung dieser Ungleichseitigkeit der körper- lichen Ausbildung würde vielleicht vermieden werden können, wenn das Kind in gleichmässiger Abwechselung bald auf dem einen bald auf dem anderen Arme der Wärterin getragen würde. Da aber fast alle Wärterinnen hinsichtlich des Kinder- tragens selbst einseitig gewöhnt sind und sich einbilden, die gleiche Geschicklichkeit des anderen Armes sich nicht einüben
1. JAHR. KÖRPERL. SEITE. KÖRPER-FORM. HALTUNGEN U. GEWOHNHEITEN.
Fehlern der Körperform grösstentheils in liegender Stellung erhalten werden.
Eine häufige Veranlassung zu Bildungsfehlern ist das ein- seitige Tragen der Kinder auf dem Arme. Schon ein oberflächlicher Blick auf das Verhalten des kindlichen Körpers in der auf dem Arme der Wärterin sitzenden Stellung wird hinreichen, um einen solchen Einfluss begreiflich zu machen. Das Kind ist mit seiner einen Körperseite an den Körper der Wärterin angedrückt. An dieser Seite werden die wichtigsten Functionen: Blutumlauf, Athmungsbewegung, Ernährung u. s. w., mehr oder weniger beeinträchtigt. Das Kind sitzt mit schiefer Hüfte auf. Der Schwerpunkt fällt daher nicht in die Mittel- linie des Körpers, sondern nach der inneren Seite zu, nach welcher nun das Rückgrat in entsprechendem Grade sich aus- biegt. Die innere Schulter wird dadurch, dass das Kind ver- möge seiner Situation genöthigt wird, den Arm dieser Seite mehr oder weniger aufzustemmen, gegen die andere Schulter merklich gehoben, dagegen nur dem Arme der äusseren Seite die Möglichkeit freier Bewegung geboten. Es leuchtet ein, dass, wenn immer dieselbe ungleichseitige Körperhaltung sich täglich und stundenlang wiederholt, sie um so leichter zu einer bleibenden ungleichseitigen Körperbildung werden muss, je jünger, zarter und umbildbarer der Körper ist. Ich habe oft Gelegenheit, solche Fälle zu beobachten, in denen die Form der Körperverbildung genau der Haltung entspricht, wie sie beim Tragen auf einer Seite die gewöhnliche ist — eine deutliche Bestätigung des nachtheiligen Einflusses derartiger Gewohn- heiten. Ja es wird sogar dieser einseitige Druck zuweilen die Entstehungsursache von Lähmung des entsprechenden Ar- mes oder Fusses.
Die Veranlassung dieser Ungleichseitigkeit der körper- lichen Ausbildung würde vielleicht vermieden werden können, wenn das Kind in gleichmässiger Abwechselung bald auf dem einen bald auf dem anderen Arme der Wärterin getragen würde. Da aber fast alle Wärterinnen hinsichtlich des Kinder- tragens selbst einseitig gewöhnt sind und sich einbilden, die gleiche Geschicklichkeit des anderen Armes sich nicht einüben
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1. JAHR. KÖRPERL. SEITE. KÖRPER-FORM. HALTUNGEN U. GEWOHNHEITEN.
Fehlern der Körperform grösstentheils in liegender Stellung
erhalten werden.
Eine häufige Veranlassung zu Bildungsfehlern ist das ein-
seitige Tragen der Kinder auf dem Arme. Schon ein
oberflächlicher Blick auf das Verhalten des kindlichen Körpers
in der auf dem Arme der Wärterin sitzenden Stellung wird
hinreichen, um einen solchen Einfluss begreiflich zu machen.
Das Kind ist mit seiner einen Körperseite an den Körper der
Wärterin angedrückt. An dieser Seite werden die wichtigsten
Functionen: Blutumlauf, Athmungsbewegung, Ernährung u. s. w.,
mehr oder weniger beeinträchtigt. Das Kind sitzt mit schiefer
Hüfte auf. Der Schwerpunkt fällt daher nicht in die Mittel-
linie des Körpers, sondern nach der inneren Seite zu, nach
welcher nun das Rückgrat in entsprechendem Grade sich aus-
biegt. Die innere Schulter wird dadurch, dass das Kind ver-
möge seiner Situation genöthigt wird, den Arm dieser Seite
mehr oder weniger aufzustemmen, gegen die andere Schulter
merklich gehoben, dagegen nur dem Arme der äusseren Seite
die Möglichkeit freier Bewegung geboten. Es leuchtet ein,
dass, wenn immer dieselbe ungleichseitige Körperhaltung sich
täglich und stundenlang wiederholt, sie um so leichter zu einer
bleibenden ungleichseitigen Körperbildung werden muss, je
jünger, zarter und umbildbarer der Körper ist. Ich habe oft
Gelegenheit, solche Fälle zu beobachten, in denen die Form
der Körperverbildung genau der Haltung entspricht, wie sie beim
Tragen auf einer Seite die gewöhnliche ist — eine deutliche
Bestätigung des nachtheiligen Einflusses derartiger Gewohn-
heiten. Ja es wird sogar dieser einseitige Druck zuweilen
die Entstehungsursache von Lähmung des entsprechenden Ar-
mes oder Fusses.
Die Veranlassung dieser Ungleichseitigkeit der körper-
lichen Ausbildung würde vielleicht vermieden werden können,
wenn das Kind in gleichmässiger Abwechselung bald auf dem
einen bald auf dem anderen Arme der Wärterin getragen
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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/58>, abgerufen am 28.07.2024.
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