Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 10. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.12. Ein froherer Emigrantenzug, als der unsrige, ward nicht leicht gesehen. Mir ging das Herz auf unter dem freien, heiteren Himmel; Gretchens liebliche Gesichtszüge wurden immer sprechender und lebendiger, und Paul lachte und gesticulirte auf dem Kutscherbock, als ob er unklug werden wollte. -- Der Weg wendete sich von der Hauptstraße ab, gegen das Gebirge zu, an dessen Fuße er eine geraume Strecke hinläuft. Zwischen zwei Bergrücken, die von ferne sich zu decken scheinen, öffnet sich seitwärts der Eingang in ein breites Thal, in dessen Tiefe meine kleine Besitzung liegt. Die Landschaft wird, wie man weiter hineinfährt, von hundert zu hundert Schritten romantischer und bilderreicher, bis der Eingang des Thales sich wieder zu schließen scheint und man sich in einem Kessel von terrassenförmigen Wiesengründen und waldigen Gipfeln befangen sieht. Gretchen, mit dem neuen Anblicke beschäftigt, war eine Zeitlang still; jetzt rief sie aus: O wie schön ist's hier! und die Gegend hat Aehnlichkeit mit meiner Heimath! -- Wir sind dem Orte unserer Bestimmung nahe, sagte ich; das Gebäude am Abhang jenes Birkenwäldchens ist das Haus meines Freundes. -- Gretchen blickte mich mit freudestrahlenden Augen an; sie ließ ihre aufgehobene Hand auf meinen Arm sinken, und ich glaubte einen leisen Druck zu empfinden. Es schien mir die Weihe meines 12. Ein froherer Emigrantenzug, als der unsrige, ward nicht leicht gesehen. Mir ging das Herz auf unter dem freien, heiteren Himmel; Gretchens liebliche Gesichtszüge wurden immer sprechender und lebendiger, und Paul lachte und gesticulirte auf dem Kutscherbock, als ob er unklug werden wollte. — Der Weg wendete sich von der Hauptstraße ab, gegen das Gebirge zu, an dessen Fuße er eine geraume Strecke hinläuft. Zwischen zwei Bergrücken, die von ferne sich zu decken scheinen, öffnet sich seitwärts der Eingang in ein breites Thal, in dessen Tiefe meine kleine Besitzung liegt. Die Landschaft wird, wie man weiter hineinfährt, von hundert zu hundert Schritten romantischer und bilderreicher, bis der Eingang des Thales sich wieder zu schließen scheint und man sich in einem Kessel von terrassenförmigen Wiesengründen und waldigen Gipfeln befangen sieht. Gretchen, mit dem neuen Anblicke beschäftigt, war eine Zeitlang still; jetzt rief sie aus: O wie schön ist's hier! und die Gegend hat Aehnlichkeit mit meiner Heimath! — Wir sind dem Orte unserer Bestimmung nahe, sagte ich; das Gebäude am Abhang jenes Birkenwäldchens ist das Haus meines Freundes. — Gretchen blickte mich mit freudestrahlenden Augen an; sie ließ ihre aufgehobene Hand auf meinen Arm sinken, und ich glaubte einen leisen Druck zu empfinden. Es schien mir die Weihe meines <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0055"/> <div type="chapter" n="12"> <head>12.</head> <p>Ein froherer Emigrantenzug, als der unsrige, ward nicht leicht gesehen. Mir ging das Herz auf unter dem freien, heiteren Himmel; Gretchens liebliche Gesichtszüge wurden immer sprechender und lebendiger, und Paul lachte und gesticulirte auf dem Kutscherbock, als ob er unklug werden wollte. — Der Weg wendete sich von der Hauptstraße ab, gegen das Gebirge zu, an dessen Fuße er eine geraume Strecke hinläuft. Zwischen zwei Bergrücken, die von ferne sich zu decken scheinen, öffnet sich seitwärts der Eingang in ein breites Thal, in dessen Tiefe meine kleine Besitzung liegt. Die Landschaft wird, wie man weiter hineinfährt, von hundert zu hundert Schritten romantischer und bilderreicher, bis der Eingang des Thales sich wieder zu schließen scheint und man sich in einem Kessel von terrassenförmigen Wiesengründen und waldigen Gipfeln befangen sieht. Gretchen, mit dem neuen Anblicke beschäftigt, war eine Zeitlang still; jetzt rief sie aus: O wie schön ist's hier! und die Gegend hat Aehnlichkeit mit meiner Heimath! — Wir sind dem Orte unserer Bestimmung nahe, sagte ich; das Gebäude am Abhang jenes Birkenwäldchens ist das Haus meines Freundes. — Gretchen blickte mich mit freudestrahlenden Augen an; sie ließ ihre aufgehobene Hand auf meinen Arm sinken, und ich glaubte einen leisen Druck zu empfinden. Es schien mir die Weihe meines<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0055]
12. Ein froherer Emigrantenzug, als der unsrige, ward nicht leicht gesehen. Mir ging das Herz auf unter dem freien, heiteren Himmel; Gretchens liebliche Gesichtszüge wurden immer sprechender und lebendiger, und Paul lachte und gesticulirte auf dem Kutscherbock, als ob er unklug werden wollte. — Der Weg wendete sich von der Hauptstraße ab, gegen das Gebirge zu, an dessen Fuße er eine geraume Strecke hinläuft. Zwischen zwei Bergrücken, die von ferne sich zu decken scheinen, öffnet sich seitwärts der Eingang in ein breites Thal, in dessen Tiefe meine kleine Besitzung liegt. Die Landschaft wird, wie man weiter hineinfährt, von hundert zu hundert Schritten romantischer und bilderreicher, bis der Eingang des Thales sich wieder zu schließen scheint und man sich in einem Kessel von terrassenförmigen Wiesengründen und waldigen Gipfeln befangen sieht. Gretchen, mit dem neuen Anblicke beschäftigt, war eine Zeitlang still; jetzt rief sie aus: O wie schön ist's hier! und die Gegend hat Aehnlichkeit mit meiner Heimath! — Wir sind dem Orte unserer Bestimmung nahe, sagte ich; das Gebäude am Abhang jenes Birkenwäldchens ist das Haus meines Freundes. — Gretchen blickte mich mit freudestrahlenden Augen an; sie ließ ihre aufgehobene Hand auf meinen Arm sinken, und ich glaubte einen leisen Druck zu empfinden. Es schien mir die Weihe meines
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-16T11:30:04Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-16T11:30:04Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |