Es sei nicht in Abrede gestellt die gemeinverbindliche Denknot- wendigkeit dieser Überlegung, so wenig, als wie schon die Selbstver- ständlichkeit des durch sie (womöglich noch) plausibel(er) gemachten Satzes.
Allein es wird bei diesen Schlüssen von einem Grundsatze Ge- brauch gemacht, der bisher weder implicite noch explicite Erwähnung fand, nämlich von diesem:
"a ist entweder b oder c" heisst genau dasselbe, wie "entweder a ist b, oder a ist c". Kürzer: Was b oder c ist, ist entweder b, oder es ist c.
Man sieht, wie hienach die Kopula "ist" sich verteilt auf die beiden Glieder der Alternative, und wie umgekehrt sie von diesen beiden auch wieder abgezogen und in eine einzige Kopula zusammengezogen verschmol- zen werden kann.
Von den in diesem Grundsatz für "einander äquivalent" erklärten bei- den Urteilen ist das erste ein kategorisches, also mit einer Kopula ver- sehenes, mit dem Subjekte a und dem Prädikate "b oder c". Das zweite Urteil aber ist gar kein kategorisches, sondern ein "disjunktives". Es be- steht aus zwei Sätzen, deren jeder für sich seine Kopula besitzt, und die mittelst der Bindewörter "entweder ..", "oder .." verknüpft, in Abhängig- keit voneinander gesetzt sind.
Es gehört dieser Grundsatz als schlechthin gültiger ausschliesslich dem "Aussagenkalkul" an, woselbst wir ihn noch näher studiren wer- den -- § 45, a+). Im Gebietekalkul gilt er im allgemeinen nicht: Wenn ein Gebiet a im Gebiete b + c enthalten ist, braucht es nicht entweder in b oder in c ganz enthalten zu sein. Daselbst gilt er -- wie wir erst viel später, § 47, sehen werden -- nur für die "Inaividuen" der Klassen, die Punkte von a, nicht aber für die Klassen selber.
Erst wenn diese "Argumentation auf die Individuen" der Klasse als ein Grundsatz, als ein "Prinzip" ausdrücklich vorausgeschickt wor- den wäre, dürften wir die obige Überlegung als einen wirklichen Be- weis hinstellen.
Dergleichen zu thun wäre wohl in der That am zweckmässigsten beim ersten Unterricht mit Schülern.
Hier dagegen wollen wir darauf ausgehen, unsre Axiome oder Prinzipien möglichst aus dem Gebiete- oder Klassenkalkul selbst zu schöpfen (von dem Aussagenkalkul, der sich in ihm mitenthalten er- weist, solange es nur irgend angeht auch mit den Prinzipien I und II auszukommen suchend -- die wir ja bislang schon in doppeltem Sinne zu citiren hatten). Da verbietet es sich denn von selbst, von Argumen- tationen auf die Individuen der Klassen wesentlich Gebrauch zu machen, solange das "Individuum" noch überhaupt nicht einer wissenschaft-
Sechste Vorlesung.
Es sei nicht in Abrede gestellt die gemeinverbindliche Denknot- wendigkeit dieser Überlegung, so wenig, als wie schon die Selbstver- ständlichkeit des durch sie (womöglich noch) plausibel(er) gemachten Satzes.
Allein es wird bei diesen Schlüssen von einem Grundsatze Ge- brauch gemacht, der bisher weder implicite noch explicite Erwähnung fand, nämlich von diesem:
„a ist entweder b oder c“ heisst genau dasselbe, wie „entweder a ist b, oder a ist c“. Kürzer: Was b oder c ist, ist entweder b, oder es ist c.
Man sieht, wie hienach die Kopula „ist“ sich verteilt auf die beiden Glieder der Alternative, und wie umgekehrt sie von diesen beiden auch wieder abgezogen und in eine einzige Kopula zusammengezogen verschmol- zen werden kann.
Von den in diesem Grundsatz für „einander äquivalent“ erklärten bei- den Urteilen ist das erste ein kategorisches, also mit einer Kopula ver- sehenes, mit dem Subjekte a und dem Prädikate „b oder c“. Das zweite Urteil aber ist gar kein kategorisches, sondern ein „disjunktives“. Es be- steht aus zwei Sätzen, deren jeder für sich seine Kopula besitzt, und die mittelst der Bindewörter „entweder ‥“, „oder ‥“ verknüpft, in Abhängig- keit voneinander gesetzt sind.
Es gehört dieser Grundsatz als schlechthin gültiger ausschliesslich dem „Aussagenkalkul“ an, woselbst wir ihn noch näher studiren wer- den — § 45, α+). Im Gebietekalkul gilt er im allgemeinen nicht: Wenn ein Gebiet a im Gebiete b + c enthalten ist, braucht es nicht entweder in b oder in c ganz enthalten zu sein. Daselbst gilt er — wie wir erst viel später, § 47, sehen werden — nur für die „Inaividuen“ der Klassen, die Punkte von a, nicht aber für die Klassen selber.
Erst wenn diese „Argumentation auf die Individuen“ der Klasse als ein Grundsatz, als ein „Prinzip“ ausdrücklich vorausgeschickt wor- den wäre, dürften wir die obige Überlegung als einen wirklichen Be- weis hinstellen.
Dergleichen zu thun wäre wohl in der That am zweckmässigsten beim ersten Unterricht mit Schülern.
Hier dagegen wollen wir darauf ausgehen, unsre Axiome oder Prinzipien möglichst aus dem Gebiete- oder Klassenkalkul selbst zu schöpfen (von dem Aussagenkalkul, der sich in ihm mitenthalten er- weist, solange es nur irgend angeht auch mit den Prinzipien I und II auszukommen suchend — die wir ja bislang schon in doppeltem Sinne zu citiren hatten). Da verbietet es sich denn von selbst, von Argumen- tationen auf die Individuen der Klassen wesentlich Gebrauch zu machen, solange das „Individuum“ noch überhaupt nicht einer wissenschaft-
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Sechste Vorlesung.
Es sei nicht in Abrede gestellt die gemeinverbindliche Denknot-
wendigkeit dieser Überlegung, so wenig, als wie schon die Selbstver-
ständlichkeit des durch sie (womöglich noch) plausibel(er) gemachten
Satzes.
Allein es wird bei diesen Schlüssen von einem Grundsatze Ge-
brauch gemacht, der bisher weder implicite noch explicite Erwähnung
fand, nämlich von diesem:
„a ist entweder b oder c“ heisst genau dasselbe, wie „entweder a
ist b, oder a ist c“. Kürzer: Was b oder c ist, ist entweder b, oder
es ist c.
Man sieht, wie hienach die Kopula „ist“ sich verteilt auf die beiden
Glieder der Alternative, und wie umgekehrt sie von diesen beiden auch
wieder abgezogen und in eine einzige Kopula zusammengezogen verschmol-
zen werden kann.
Von den in diesem Grundsatz für „einander äquivalent“ erklärten bei-
den Urteilen ist das erste ein kategorisches, also mit einer Kopula ver-
sehenes, mit dem Subjekte a und dem Prädikate „b oder c“. Das zweite
Urteil aber ist gar kein kategorisches, sondern ein „disjunktives“. Es be-
steht aus zwei Sätzen, deren jeder für sich seine Kopula besitzt, und die
mittelst der Bindewörter „entweder ‥“, „oder ‥“ verknüpft, in Abhängig-
keit voneinander gesetzt sind.
Es gehört dieser Grundsatz als schlechthin gültiger ausschliesslich
dem „Aussagenkalkul“ an, woselbst wir ihn noch näher studiren wer-
den — § 45, α+). Im Gebietekalkul gilt er im allgemeinen nicht: Wenn
ein Gebiet a im Gebiete b + c enthalten ist, braucht es nicht entweder
in b oder in c ganz enthalten zu sein. Daselbst gilt er — wie wir
erst viel später, § 47, sehen werden — nur für die „Inaividuen“ der
Klassen, die Punkte von a, nicht aber für die Klassen selber.
Erst wenn diese „Argumentation auf die Individuen“ der Klasse
als ein Grundsatz, als ein „Prinzip“ ausdrücklich vorausgeschickt wor-
den wäre, dürften wir die obige Überlegung als einen wirklichen Be-
weis hinstellen.
Dergleichen zu thun wäre wohl in der That am zweckmässigsten beim
ersten Unterricht mit Schülern.
Hier dagegen wollen wir darauf ausgehen, unsre Axiome oder
Prinzipien möglichst aus dem Gebiete- oder Klassenkalkul selbst zu
schöpfen (von dem Aussagenkalkul, der sich in ihm mitenthalten er-
weist, solange es nur irgend angeht auch mit den Prinzipien I und II
auszukommen suchend — die wir ja bislang schon in doppeltem Sinne
zu citiren hatten). Da verbietet es sich denn von selbst, von Argumen-
tationen auf die Individuen der Klassen wesentlich Gebrauch zu machen,
solange das „Individuum“ noch überhaupt nicht einer wissenschaft-
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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/316>, abgerufen am 24.11.2024.
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