§ 15. Negative Urteile als negativ prädizirende anzusehen.
nicht-weiss. Soll wirklich weiter nichts, als was in dem Satze ausgesagt wird: "Es ist nicht wahr, dass alle Schafe weiss sind" korrekt zum Aus- druck gebracht werden, ohne dass man aufhört von allen Schafen zu reden, so steht uns vorerst nur diese allerdings etwas umständliche Ausdrucksweise selbst zur Verfügung (§ 33 und 35).
Ich möchte indess weitere zur Rechtfertigung unserer Behauptungen dienende Ausführungen an gegnerischerseits gemachte Einwürfe an- knüpfen:
Kant's "limitative" Urteile g) glaubten wir angemessener als "nega- tiv-prädizirende" bezeichnen zu sollen, und auch fortfahren zu dürfen, im Einklang mit der "herrschenden" Aristotelisch-scholastischen Terminologie dieselben schlechtweg als "verneinende" Urteile gelten zu lassen -- in An- betracht dass wir die andere Urteilform b) (die für Kant-Lotze-Sigwart den Typus des verneinenden Urteils vorstellt) überhaupt nicht werden an- erkennen können.
Gegen Kant's limitative, also unsre negativ prädizirenden Urteile polemisirt nun aber auf das heftigste Lotze. Ein Autor von des letzteren Bedeutung und Ansehen, falls er irrt, verdient gewiss widerlegt zu werden. Geben wir ihm darum zunächst selbst das Wort. In 1 p. 61 sagt derselbe:
"Eine bestimmte Beziehung zwischen S und P, welcher Art sie immer sein mag, denken wir uns durch ein Urtheil: S ist P, als einen noch frag- lichen Gedanken ausgedrückt; diese Beziehung bildet den Gedankeninhalt, über den zwei einander entgegengesetzte Nebenurtheile gefällt werden; das eine affirmative gibt ihm das Prädicat der Gültigkeit oder der Wirklich- keit, das andere negative verweigert sie ihm."
Es erhellt hieraus, dass Lotze das "verneinende" Urteil im Sinne unsrer Aussage b) aufgefasst wissen will. Für diese Auffassung plädirt er überhaupt auf der ganzen Seite (p. 61) und weiterhin.
Er fährt z. B. fort (und hierin kann ich ihm beipflichten):
"... aber zwei wesentlich verschiedene Arten des Urtheils begründet dieser Unterschied nicht. Gültigkeit oder Ungültigkeit sind vielmehr in Bezug auf die Frage, die uns hier beschäftigt, als sachliche Prädicate zu bezeichnen, die von dem ganzen Urtheilsinhalte als ihrem Subjecte gelten."
Aber nun weiter unten:
"... das limitative oder unendliche Urtheil, das durch eine positive Copula dem Subject ein negatives Prädicat beilegen soll und durch die Formel: S ist ein Nicht-P, ausgedrückt zu werden pflegt. Viel Scharfsinn ist auch in neuerer Zeit zur Ehrenrettung dieser Urtheilsform aufgeboten worden, in der ich dennoch nur ein widersinniges Erzeugniss des Schulwitzes*) finden kann."
Ich werfe zunächst die Zwischenfrage ein: Steht nicht unmittelbar vorher das "sachliche Prädikat der Ungültigkeit" schon im Widerspruch mit der soeben und noch weiterhin verfochtenen Anschauung? Ist nicht
*) Ich gestatte mir, in diesen Citaten einzelnes durch kursiven Druck eigen- mächtig hervorzuheben.
§ 15. Negative Urteile als negativ prädizirende anzusehen.
nicht-weiss. Soll wirklich weiter nichts, als was in dem Satze ausgesagt wird: „Es ist nicht wahr, dass alle Schafe weiss sind“ korrekt zum Aus- druck gebracht werden, ohne dass man aufhört von allen Schafen zu reden, so steht uns vorerst nur diese allerdings etwas umständliche Ausdrucksweise selbst zur Verfügung (§ 33 und 35).
Ich möchte indess weitere zur Rechtfertigung unserer Behauptungen dienende Ausführungen an gegnerischerseits gemachte Einwürfe an- knüpfen:
Kant's „limitative“ Urteile γ) glaubten wir angemessener als „nega- tiv-prädizirende“ bezeichnen zu sollen, und auch fortfahren zu dürfen, im Einklang mit der „herrschenden“ Aristotelisch-scholastischen Terminologie dieselben schlechtweg als „verneinende“ Urteile gelten zu lassen — in An- betracht dass wir die andere Urteilform β) (die für Kant-Lotze-Sigwart den Typus des verneinenden Urteils vorstellt) überhaupt nicht werden an- erkennen können.
Gegen Kant's limitative, also unsre negativ prädizirenden Urteile polemisirt nun aber auf das heftigste Lotze. Ein Autor von des letzteren Bedeutung und Ansehen, falls er irrt, verdient gewiss widerlegt zu werden. Geben wir ihm darum zunächst selbst das Wort. In 1 p. 61 sagt derselbe:
„Eine bestimmte Beziehung zwischen S und P, welcher Art sie immer sein mag, denken wir uns durch ein Urtheil: S ist P, als einen noch frag- lichen Gedanken ausgedrückt; diese Beziehung bildet den Gedankeninhalt, über den zwei einander entgegengesetzte Nebenurtheile gefällt werden; das eine affirmative gibt ihm das Prädicat der Gültigkeit oder der Wirklich- keit, das andere negative verweigert sie ihm.“
Es erhellt hieraus, dass Lotze das „verneinende“ Urteil im Sinne unsrer Aussage β) aufgefasst wissen will. Für diese Auffassung plädirt er überhaupt auf der ganzen Seite (p. 61) und weiterhin.
Er fährt z. B. fort (und hierin kann ich ihm beipflichten):
„… aber zwei wesentlich verschiedene Arten des Urtheils begründet dieser Unterschied nicht. Gültigkeit oder Ungültigkeit sind vielmehr in Bezug auf die Frage, die uns hier beschäftigt, als sachliche Prädicate zu bezeichnen, die von dem ganzen Urtheilsinhalte als ihrem Subjecte gelten.“
Aber nun weiter unten:
„… das limitative oder unendliche Urtheil, das durch eine positive Copula dem Subject ein negatives Prädicat beilegen soll und durch die Formel: S ist ein Nicht-P, ausgedrückt zu werden pflegt. Viel Scharfsinn ist auch in neuerer Zeit zur Ehrenrettung dieser Urtheilsform aufgeboten worden, in der ich dennoch nur ein widersinniges Erzeugniss des Schulwitzes*) finden kann.“
Ich werfe zunächst die Zwischenfrage ein: Steht nicht unmittelbar vorher das „sachliche Prädikat der Ungültigkeit“ schon im Widerspruch mit der soeben und noch weiterhin verfochtenen Anschauung? Ist nicht
*) Ich gestatte mir, in diesen Citaten einzelnes durch kursiven Druck eigen- mächtig hervorzuheben.
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nicht-weiss. Soll wirklich weiter nichts, als was in dem Satze ausgesagt
wird: „Es ist nicht wahr, dass alle Schafe weiss sind“ korrekt zum Aus-
druck gebracht werden, ohne dass man aufhört von allen Schafen zu reden,
so steht uns vorerst nur diese allerdings etwas umständliche Ausdrucksweise
selbst zur Verfügung (§ 33 und 35).
Ich möchte indess weitere zur Rechtfertigung unserer Behauptungen
dienende Ausführungen an gegnerischerseits gemachte Einwürfe an-
knüpfen:
Kant's „limitative“ Urteile γ) glaubten wir angemessener als „nega-
tiv-prädizirende“ bezeichnen zu sollen, und auch fortfahren zu dürfen, im
Einklang mit der „herrschenden“ Aristotelisch-scholastischen Terminologie
dieselben schlechtweg als „verneinende“ Urteile gelten zu lassen — in An-
betracht dass wir die andere Urteilform β) (die für Kant-Lotze-Sigwart
den Typus des verneinenden Urteils vorstellt) überhaupt nicht werden an-
erkennen können.
Gegen Kant's limitative, also unsre negativ prädizirenden Urteile
polemisirt nun aber auf das heftigste Lotze. Ein Autor von des letzteren
Bedeutung und Ansehen, falls er irrt, verdient gewiss widerlegt zu werden.
Geben wir ihm darum zunächst selbst das Wort. In 1 p. 61 sagt derselbe:
„Eine bestimmte Beziehung zwischen S und P, welcher Art sie immer
sein mag, denken wir uns durch ein Urtheil: S ist P, als einen noch frag-
lichen Gedanken ausgedrückt; diese Beziehung bildet den Gedankeninhalt,
über den zwei einander entgegengesetzte Nebenurtheile gefällt werden; das
eine affirmative gibt ihm das Prädicat der Gültigkeit oder der Wirklich-
keit, das andere negative verweigert sie ihm.“
Es erhellt hieraus, dass Lotze das „verneinende“ Urteil im Sinne
unsrer Aussage β) aufgefasst wissen will. Für diese Auffassung plädirt er
überhaupt auf der ganzen Seite (p. 61) und weiterhin.
Er fährt z. B. fort (und hierin kann ich ihm beipflichten):
„… aber zwei wesentlich verschiedene Arten des Urtheils begründet
dieser Unterschied nicht. Gültigkeit oder Ungültigkeit sind vielmehr in
Bezug auf die Frage, die uns hier beschäftigt, als sachliche Prädicate zu
bezeichnen, die von dem ganzen Urtheilsinhalte als ihrem Subjecte gelten.“
Aber nun weiter unten:
„… das limitative oder unendliche Urtheil, das durch eine positive
Copula dem Subject ein negatives Prädicat beilegen soll und durch die
Formel: S ist ein Nicht-P, ausgedrückt zu werden pflegt. Viel Scharfsinn
ist auch in neuerer Zeit zur Ehrenrettung dieser Urtheilsform aufgeboten
worden, in der ich dennoch nur ein widersinniges Erzeugniss des Schulwitzes *)
finden kann.“
Ich werfe zunächst die Zwischenfrage ein: Steht nicht unmittelbar
vorher das „sachliche Prädikat der Ungültigkeit“ schon im Widerspruch
mit der soeben und noch weiterhin verfochtenen Anschauung? Ist nicht
*) Ich gestatte mir, in diesen Citaten einzelnes durch kursiven Druck eigen-
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Schröder, Ernst: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig, 1890, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schroeder_logik01_1890/349>, abgerufen am 22.11.2024.
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