Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

göttliche Ideal der neuen Zeit, fast anderthalb Jahrtau-
sende mit tiefer Innigkeit in ihrem Schooß ernährt,
ohne daß es gelungen wäre, weder in den Künsten
noch in den Wissenschaften, es auszusprechen. Als
hierauf die ersten Versuche gemacht worden, das bis
dahin blos Empfundene zu gestalten, geschahen diese in
tiefer Einfalt. Wir nennen nämlich einfältig, wo
die noch kindliche und unvollendete Form einem zu
großen, zu erhabenem Innhalt unterliegt, wo das
unerreichte Ideal unmittelbar zu uns spricht, und der
Geist des Künstlers oder des Weisen in frommer Erge-
bung schweigend, und fast blos passiv erscheint. Al-
les Große erscheint zuerst in dem Gewand der Einfalt,
und nur ein geringer Innhalt ist es, dessen sich der
Geist des Menschen sogleich bemeistein, den er sogleich
in vollendete Form zu zwingen vermag.

Zu jener Zeit, als in Italien der Lehrer des Ra-
phael und seine Zeitgenossen in frommer Einfalt die
neue Kunst hervorgerufen, hat sich in Deutschland der
Geist der neuen Naturkunde zuerst geregt. Hierauf
wurde zugleich in den Künsten und in der Naturkunde
das hohe Ideal der neuern Zeit ausgesprochen. Ein
Zeitgenosse des Raphael und Michel Angelo, wagt es
der unsterbliche Kopernikus die erstorbene Naturweis-
heit mit dem hohen Geist und Sinn der neuen Zeit wie-
der zu beleben. Der alte Wahn, daß die Sonne und
alle ewigen Gewalten des Himmels sich um unsre klei-
ne Erde bewegten, welcher in der alten Zeit, wo der

goͤttliche Ideal der neuen Zeit, faſt anderthalb Jahrtau-
ſende mit tiefer Innigkeit in ihrem Schooß ernaͤhrt,
ohne daß es gelungen waͤre, weder in den Kuͤnſten
noch in den Wiſſenſchaften, es auszuſprechen. Als
hierauf die erſten Verſuche gemacht worden, das bis
dahin blos Empfundene zu geſtalten, geſchahen dieſe in
tiefer Einfalt. Wir nennen naͤmlich einfaͤltig, wo
die noch kindliche und unvollendete Form einem zu
großen, zu erhabenem Innhalt unterliegt, wo das
unerreichte Ideal unmittelbar zu uns ſpricht, und der
Geiſt des Kuͤnſtlers oder des Weiſen in frommer Erge-
bung ſchweigend, und faſt blos paſſiv erſcheint. Al-
les Große erſcheint zuerſt in dem Gewand der Einfalt,
und nur ein geringer Innhalt iſt es, deſſen ſich der
Geiſt des Menſchen ſogleich bemeiſtein, den er ſogleich
in vollendete Form zu zwingen vermag.

Zu jener Zeit, als in Italien der Lehrer des Ra-
phael und ſeine Zeitgenoſſen in frommer Einfalt die
neue Kunſt hervorgerufen, hat ſich in Deutſchland der
Geiſt der neuen Naturkunde zuerſt geregt. Hierauf
wurde zugleich in den Kuͤnſten und in der Naturkunde
das hohe Ideal der neuern Zeit ausgeſprochen. Ein
Zeitgenoſſe des Raphael und Michel Angelo, wagt es
der unſterbliche Kopernikus die erſtorbene Naturweis-
heit mit dem hohen Geiſt und Sinn der neuen Zeit wie-
der zu beleben. Der alte Wahn, daß die Sonne und
alle ewigen Gewalten des Himmels ſich um unſre klei-
ne Erde bewegten, welcher in der alten Zeit, wo der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0027" n="13"/>
go&#x0364;ttliche Ideal der neuen Zeit, fa&#x017F;t anderthalb Jahrtau-<lb/>
&#x017F;ende mit tiefer Innigkeit in ihrem Schooß erna&#x0364;hrt,<lb/>
ohne daß es gelungen wa&#x0364;re, weder in den Ku&#x0364;n&#x017F;ten<lb/>
noch in den Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, es auszu&#x017F;prechen. Als<lb/>
hierauf die er&#x017F;ten Ver&#x017F;uche gemacht worden, das bis<lb/>
dahin blos Empfundene zu ge&#x017F;talten, ge&#x017F;chahen die&#x017F;e in<lb/>
tiefer Einfalt. Wir nennen na&#x0364;mlich einfa&#x0364;ltig, wo<lb/>
die noch kindliche und unvollendete Form einem zu<lb/>
großen, zu erhabenem Innhalt unterliegt, wo das<lb/>
unerreichte Ideal unmittelbar zu uns &#x017F;pricht, und der<lb/>
Gei&#x017F;t des Ku&#x0364;n&#x017F;tlers oder des Wei&#x017F;en in frommer Erge-<lb/>
bung &#x017F;chweigend, und fa&#x017F;t blos pa&#x017F;&#x017F;iv er&#x017F;cheint. Al-<lb/>
les Große er&#x017F;cheint zuer&#x017F;t in dem Gewand der Einfalt,<lb/>
und nur ein geringer Innhalt i&#x017F;t es, de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich der<lb/>
Gei&#x017F;t des Men&#x017F;chen &#x017F;ogleich bemei&#x017F;tein, den er &#x017F;ogleich<lb/>
in vollendete Form zu zwingen vermag.</p><lb/>
        <p>Zu jener Zeit, als in Italien der Lehrer des Ra-<lb/>
phael und &#x017F;eine Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en in frommer Einfalt die<lb/>
neue Kun&#x017F;t hervorgerufen, hat &#x017F;ich in Deut&#x017F;chland der<lb/>
Gei&#x017F;t der neuen Naturkunde zuer&#x017F;t geregt. Hierauf<lb/>
wurde zugleich in den Ku&#x0364;n&#x017F;ten und in der Naturkunde<lb/>
das hohe Ideal der neuern Zeit ausge&#x017F;prochen. Ein<lb/>
Zeitgeno&#x017F;&#x017F;e des Raphael und Michel Angelo, wagt es<lb/>
der un&#x017F;terbliche Kopernikus die er&#x017F;torbene Naturweis-<lb/>
heit mit dem hohen Gei&#x017F;t und Sinn der neuen Zeit wie-<lb/>
der zu beleben. Der alte Wahn, daß die Sonne und<lb/>
alle ewigen Gewalten des Himmels &#x017F;ich um un&#x017F;re klei-<lb/>
ne Erde bewegten, welcher in der alten Zeit, wo der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0027] goͤttliche Ideal der neuen Zeit, faſt anderthalb Jahrtau- ſende mit tiefer Innigkeit in ihrem Schooß ernaͤhrt, ohne daß es gelungen waͤre, weder in den Kuͤnſten noch in den Wiſſenſchaften, es auszuſprechen. Als hierauf die erſten Verſuche gemacht worden, das bis dahin blos Empfundene zu geſtalten, geſchahen dieſe in tiefer Einfalt. Wir nennen naͤmlich einfaͤltig, wo die noch kindliche und unvollendete Form einem zu großen, zu erhabenem Innhalt unterliegt, wo das unerreichte Ideal unmittelbar zu uns ſpricht, und der Geiſt des Kuͤnſtlers oder des Weiſen in frommer Erge- bung ſchweigend, und faſt blos paſſiv erſcheint. Al- les Große erſcheint zuerſt in dem Gewand der Einfalt, und nur ein geringer Innhalt iſt es, deſſen ſich der Geiſt des Menſchen ſogleich bemeiſtein, den er ſogleich in vollendete Form zu zwingen vermag. Zu jener Zeit, als in Italien der Lehrer des Ra- phael und ſeine Zeitgenoſſen in frommer Einfalt die neue Kunſt hervorgerufen, hat ſich in Deutſchland der Geiſt der neuen Naturkunde zuerſt geregt. Hierauf wurde zugleich in den Kuͤnſten und in der Naturkunde das hohe Ideal der neuern Zeit ausgeſprochen. Ein Zeitgenoſſe des Raphael und Michel Angelo, wagt es der unſterbliche Kopernikus die erſtorbene Naturweis- heit mit dem hohen Geiſt und Sinn der neuen Zeit wie- der zu beleben. Der alte Wahn, daß die Sonne und alle ewigen Gewalten des Himmels ſich um unſre klei- ne Erde bewegten, welcher in der alten Zeit, wo der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/27
Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden, 1808, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_naturwissenschaft_1808/27>, abgerufen am 21.11.2024.