Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

sich täglich selber betrachtet und erkennen lernt, was sie
ohne ihre Liebe war und ist. Hierdurch allein gelangt
der Mensch zu jener Selbstverläugnung, durch welche
er Andre von Herzen höher zu achten vermag, als sich
selber. Mit einem Worte, durch jene Liebe vermag
der Mensch Alles, auch das Ungewöhnlichste und un-
möglichst scheinende, in ihrem Lichte erkennt er Alles,
was ihm früher dunkel war. Denn in der That,
schon die Verwandlung, welche unter dem Einfluß
jener Liebe, mit den erkennenden Kräften der Men-
schennatur vorgehet, setzt in Erstaunen, denn hier
sehen wir mehr als uns alle Erscheinungen des Som-
nambulismus und das ganze hiermit verwandte Ge-
biet zusammen zeigen können. Dem unwissendsten
Layen werden in diesem Zustande öfters Augen und
Mund geöffnet, Dinge klar zu erkennen und auszu-
sprechen, in deren Tiefe kaum der gebilderste Ver-
stand hineinblicket. Jener bäuerische Einsiedler *),
der anfangs in seinem stillen, abgelegenen Dorfe, dann
in einem einsamen Walde selbst nicht einmal Gelegen-
heit gehabt hatte, sich durch Umgang zu bilden, und
der nicht einmal lesen konnte, behielt zwar auch spä-
ter, so lange bloß von Gegenständen des gemeinen
Lebens die Rede war, eine große Unbeholfenheit und
Dürftigkeit des Ausdruckes, sobald er aber von Ge-

gen-
*) Historie der Wiedergebornen, Theil IV, Seite 165,
und ähnliche Beyspiele in demselben Theile Seite 80,
im Vten Theile Seite 12, Seite 169, so wie das
Leben des Jacob Böhme u. A.

ſich taͤglich ſelber betrachtet und erkennen lernt, was ſie
ohne ihre Liebe war und iſt. Hierdurch allein gelangt
der Menſch zu jener Selbſtverlaͤugnung, durch welche
er Andre von Herzen hoͤher zu achten vermag, als ſich
ſelber. Mit einem Worte, durch jene Liebe vermag
der Menſch Alles, auch das Ungewoͤhnlichſte und un-
moͤglichſt ſcheinende, in ihrem Lichte erkennt er Alles,
was ihm fruͤher dunkel war. Denn in der That,
ſchon die Verwandlung, welche unter dem Einfluß
jener Liebe, mit den erkennenden Kraͤften der Men-
ſchennatur vorgehet, ſetzt in Erſtaunen, denn hier
ſehen wir mehr als uns alle Erſcheinungen des Som-
nambulismus und das ganze hiermit verwandte Ge-
biet zuſammen zeigen koͤnnen. Dem unwiſſendſten
Layen werden in dieſem Zuſtande oͤfters Augen und
Mund geoͤffnet, Dinge klar zu erkennen und auszu-
ſprechen, in deren Tiefe kaum der gebilderſte Ver-
ſtand hineinblicket. Jener baͤueriſche Einſiedler *),
der anfangs in ſeinem ſtillen, abgelegenen Dorfe, dann
in einem einſamen Walde ſelbſt nicht einmal Gelegen-
heit gehabt hatte, ſich durch Umgang zu bilden, und
der nicht einmal leſen konnte, behielt zwar auch ſpaͤ-
ter, ſo lange bloß von Gegenſtaͤnden des gemeinen
Lebens die Rede war, eine große Unbeholfenheit und
Duͤrftigkeit des Ausdruckes, ſobald er aber von Ge-

gen-
*) Hiſtorie der Wiedergebornen, Theil IV, Seite 165,
und aͤhnliche Beyſpiele in demſelben Theile Seite 80,
im Vten Theile Seite 12, Seite 169, ſo wie das
Leben des Jacob Boͤhme u. A.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0184" n="174"/>
&#x017F;ich ta&#x0364;glich &#x017F;elber betrachtet und erkennen lernt, was &#x017F;ie<lb/>
ohne ihre Liebe war und i&#x017F;t. Hierdurch allein gelangt<lb/>
der Men&#x017F;ch zu jener Selb&#x017F;tverla&#x0364;ugnung, durch welche<lb/>
er Andre von Herzen ho&#x0364;her zu achten vermag, als &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elber. Mit einem Worte, durch jene Liebe vermag<lb/>
der Men&#x017F;ch Alles, auch das Ungewo&#x0364;hnlich&#x017F;te und un-<lb/>
mo&#x0364;glich&#x017F;t &#x017F;cheinende, in ihrem Lichte erkennt er Alles,<lb/>
was ihm fru&#x0364;her dunkel war. Denn in der That,<lb/>
&#x017F;chon die Verwandlung, welche unter dem Einfluß<lb/>
jener Liebe, mit den erkennenden Kra&#x0364;ften der Men-<lb/>
&#x017F;chennatur vorgehet, &#x017F;etzt in Er&#x017F;taunen, denn hier<lb/>
&#x017F;ehen wir mehr als uns alle Er&#x017F;cheinungen des Som-<lb/>
nambulismus und das ganze hiermit verwandte Ge-<lb/>
biet zu&#x017F;ammen zeigen ko&#x0364;nnen. Dem unwi&#x017F;&#x017F;end&#x017F;ten<lb/>
Layen werden in die&#x017F;em Zu&#x017F;tande o&#x0364;fters Augen und<lb/>
Mund geo&#x0364;ffnet, Dinge klar zu erkennen und auszu-<lb/>
&#x017F;prechen, in deren Tiefe kaum der gebilder&#x017F;te Ver-<lb/>
&#x017F;tand hineinblicket. Jener ba&#x0364;ueri&#x017F;che Ein&#x017F;iedler <note place="foot" n="*)">Hi&#x017F;torie der Wiedergebornen, Theil <hi rendition="#aq">IV,</hi> Seite 165,<lb/>
und a&#x0364;hnliche Bey&#x017F;piele in dem&#x017F;elben Theile Seite 80,<lb/>
im <hi rendition="#aq">V</hi>ten Theile Seite 12, Seite 169, &#x017F;o wie das<lb/>
Leben des Jacob Bo&#x0364;hme u. A.</note>,<lb/>
der anfangs in &#x017F;einem &#x017F;tillen, abgelegenen Dorfe, dann<lb/>
in einem ein&#x017F;amen Walde &#x017F;elb&#x017F;t nicht einmal Gelegen-<lb/>
heit gehabt hatte, &#x017F;ich durch Umgang zu bilden, und<lb/>
der nicht einmal le&#x017F;en konnte, behielt zwar auch &#x017F;pa&#x0364;-<lb/>
ter, &#x017F;o lange bloß von Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden des gemeinen<lb/>
Lebens die Rede war, eine große Unbeholfenheit und<lb/>
Du&#x0364;rftigkeit des Ausdruckes, &#x017F;obald er aber von Ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gen-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[174/0184] ſich taͤglich ſelber betrachtet und erkennen lernt, was ſie ohne ihre Liebe war und iſt. Hierdurch allein gelangt der Menſch zu jener Selbſtverlaͤugnung, durch welche er Andre von Herzen hoͤher zu achten vermag, als ſich ſelber. Mit einem Worte, durch jene Liebe vermag der Menſch Alles, auch das Ungewoͤhnlichſte und un- moͤglichſt ſcheinende, in ihrem Lichte erkennt er Alles, was ihm fruͤher dunkel war. Denn in der That, ſchon die Verwandlung, welche unter dem Einfluß jener Liebe, mit den erkennenden Kraͤften der Men- ſchennatur vorgehet, ſetzt in Erſtaunen, denn hier ſehen wir mehr als uns alle Erſcheinungen des Som- nambulismus und das ganze hiermit verwandte Ge- biet zuſammen zeigen koͤnnen. Dem unwiſſendſten Layen werden in dieſem Zuſtande oͤfters Augen und Mund geoͤffnet, Dinge klar zu erkennen und auszu- ſprechen, in deren Tiefe kaum der gebilderſte Ver- ſtand hineinblicket. Jener baͤueriſche Einſiedler *), der anfangs in ſeinem ſtillen, abgelegenen Dorfe, dann in einem einſamen Walde ſelbſt nicht einmal Gelegen- heit gehabt hatte, ſich durch Umgang zu bilden, und der nicht einmal leſen konnte, behielt zwar auch ſpaͤ- ter, ſo lange bloß von Gegenſtaͤnden des gemeinen Lebens die Rede war, eine große Unbeholfenheit und Duͤrftigkeit des Ausdruckes, ſobald er aber von Ge- gen- *) Hiſtorie der Wiedergebornen, Theil IV, Seite 165, und aͤhnliche Beyſpiele in demſelben Theile Seite 80, im Vten Theile Seite 12, Seite 169, ſo wie das Leben des Jacob Boͤhme u. A.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/184
Zitationshilfe: Schubert, Gotthilf Heinrich von: Die Symbolik des Traumes. Bamberg, 1814, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubert_symbolik_1814/184>, abgerufen am 25.11.2024.