Brief, in dem sie mich bittet, ein ,Vaterunser' neben ihrer Leiche zu beten. Der Brief war lang, verwickelt, voll Phrasen, aber er schnitt mir ins Herz. An einen Satz erinnere ich mich genau: ,Die Kluft zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich sein möchte, ist zu groß, als daß ich noch weiter versuchen könnte, eine Brücke darüber zu bauen. Es ist alles aus - nimm mir meinen Tod nicht übel und mach Dir keine Vorwürfe, Du kannst nichts dafür, hast nur Deine Pflicht gethan, aber ich ... ich kann es eben nicht länger aushalten in einer Welt, in der es die Pflicht eines Ehrenmannes ist, Geschöpfe wie mich so tief zu verletzen, wie Du mich heute verletzt hast ...'
Wie das weh gethan hat - es war so schrecklich wahr! Natürlich fuhr ich sofort in die Roßau, wo sie wohnte, um ihre letzte Bitte zu erfüllen.
Es war gegen elf Uhr, als ich hinausfuhr. Sie kennen diese schwülen Sommernächte in Wien, die verpestete Luft, in der es nach allem riecht, was faul ist und was man den Tag über versteckt! Und am allerärgsten war die Luft in dem Haus, in dem sie wohnte, in der elenden Vorstadtbaracke! ... Die hohe, schmutzige Treppe, die kein Ende nehmen wollte, und ganz oben im dritten Stock ihr Zimmerchen, das ich kannte. Sie lag auf ihrem Bett mit gefalteten Händen, auf dem Gesicht ein Ausdruck von unbefriedigter
Brief, in dem sie mich bittet, ein ‚Vaterunser‘ neben ihrer Leiche zu beten. Der Brief war lang, verwickelt, voll Phrasen, aber er schnitt mir ins Herz. An einen Satz erinnere ich mich genau: ‚Die Kluft zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich sein möchte, ist zu groß, als daß ich noch weiter versuchen könnte, eine Brücke darüber zu bauen. Es ist alles aus – nimm mir meinen Tod nicht übel und mach Dir keine Vorwürfe, Du kannst nichts dafür, hast nur Deine Pflicht gethan, aber ich … ich kann es eben nicht länger aushalten in einer Welt, in der es die Pflicht eines Ehrenmannes ist, Geschöpfe wie mich so tief zu verletzen, wie Du mich heute verletzt hast …‘
Wie das weh gethan hat – es war so schrecklich wahr! Natürlich fuhr ich sofort in die Roßau, wo sie wohnte, um ihre letzte Bitte zu erfüllen.
Es war gegen elf Uhr, als ich hinausfuhr. Sie kennen diese schwülen Sommernächte in Wien, die verpestete Luft, in der es nach allem riecht, was faul ist und was man den Tag über versteckt! Und am allerärgsten war die Luft in dem Haus, in dem sie wohnte, in der elenden Vorstadtbaracke! … Die hohe, schmutzige Treppe, die kein Ende nehmen wollte, und ganz oben im dritten Stock ihr Zimmerchen, das ich kannte. Sie lag auf ihrem Bett mit gefalteten Händen, auf dem Gesicht ein Ausdruck von unbefriedigter
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0062"n="61"/>
Brief, in dem sie mich bittet, ein ‚Vaterunser‘ neben ihrer Leiche zu beten. Der Brief war lang, verwickelt, voll Phrasen, aber er schnitt mir ins Herz. An einen Satz erinnere ich mich genau: ‚Die Kluft zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich sein möchte, ist zu groß, als daß ich noch weiter versuchen könnte, eine Brücke darüber zu bauen. Es ist alles aus – nimm mir meinen Tod nicht übel und mach Dir keine Vorwürfe, Du kannst nichts dafür, hast nur Deine Pflicht gethan, aber ich … ich kann es eben nicht länger aushalten in einer Welt, in der es die Pflicht eines Ehrenmannes ist, Geschöpfe wie mich so tief zu verletzen, wie Du mich heute verletzt hast …‘</p><p>Wie das weh gethan hat – es war so schrecklich wahr! Natürlich fuhr ich sofort in die Roßau, wo sie wohnte, um ihre letzte Bitte zu erfüllen.</p><p>Es war gegen elf Uhr, als ich hinausfuhr. Sie kennen diese schwülen Sommernächte in Wien, die verpestete Luft, in der es nach allem riecht, was faul ist und was man den Tag über versteckt! Und am allerärgsten war die Luft in dem Haus, in dem sie wohnte, in der elenden Vorstadtbaracke! … Die hohe, schmutzige Treppe, die kein Ende nehmen wollte, und ganz oben im dritten Stock ihr Zimmerchen, das ich kannte. Sie lag auf ihrem Bett mit gefalteten Händen, auf dem Gesicht ein Ausdruck von unbefriedigter
</p></div></body></text></TEI>
[61/0062]
Brief, in dem sie mich bittet, ein ‚Vaterunser‘ neben ihrer Leiche zu beten. Der Brief war lang, verwickelt, voll Phrasen, aber er schnitt mir ins Herz. An einen Satz erinnere ich mich genau: ‚Die Kluft zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich sein möchte, ist zu groß, als daß ich noch weiter versuchen könnte, eine Brücke darüber zu bauen. Es ist alles aus – nimm mir meinen Tod nicht übel und mach Dir keine Vorwürfe, Du kannst nichts dafür, hast nur Deine Pflicht gethan, aber ich … ich kann es eben nicht länger aushalten in einer Welt, in der es die Pflicht eines Ehrenmannes ist, Geschöpfe wie mich so tief zu verletzen, wie Du mich heute verletzt hast …‘
Wie das weh gethan hat – es war so schrecklich wahr! Natürlich fuhr ich sofort in die Roßau, wo sie wohnte, um ihre letzte Bitte zu erfüllen.
Es war gegen elf Uhr, als ich hinausfuhr. Sie kennen diese schwülen Sommernächte in Wien, die verpestete Luft, in der es nach allem riecht, was faul ist und was man den Tag über versteckt! Und am allerärgsten war die Luft in dem Haus, in dem sie wohnte, in der elenden Vorstadtbaracke! … Die hohe, schmutzige Treppe, die kein Ende nehmen wollte, und ganz oben im dritten Stock ihr Zimmerchen, das ich kannte. Sie lag auf ihrem Bett mit gefalteten Händen, auf dem Gesicht ein Ausdruck von unbefriedigter
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2012-10-29T10:30:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-10-29T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2012-10-29T10:30:31Z)
Schubin, Ossip: Vollmondzauber. In: Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek (Fünfzehnter Jahrgang. Band 17). 1. Bd. Stuttgart, 1899, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schubin_vollmondzauber01_1899/62>, abgerufen am 01.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.