Schücking, Levin: Die Schwester. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 169–291. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.liche Deutsch, und er entwarf beredte Schilderungen der schwiegerväterlichen Herrlichkeit in Holland und Indien, von denen seine Frau kein Wort verstand. Diese wandte sich am Schlusse des Soupers mit der Bitte an Leonore, ob sie ihr nicht eine Zimmerreihe nach vorn hinaus einräumen könne, es müsse dort eine weit schönere Aussicht auf den Fluß sich bieten -- Leonore erschrak über diese Worte --: Es ist kein Tisch und kein Stuhl in den Zimmern nach vorn, der Kalk ist von den Wänden gefallen, und der Regen tropft durch die Decke, flüsterte sie ihrem Bruder, der neben ihr saß, ins Ohr. Liebe Christine, sagte Joseph mit großer Gemüthsruhe, nach vorn hinaus sind die Empfang- und Wohnzimmer des Vaters -- sie sind kostbar eingerichtet, und der Vater hat seine Sammlungen, sein Münz- und Medaillencabinet darin -- deßhalb pflegt er sie sehr sorgfältig zu verschließen, wenn er kleine Reisen macht. O! sagte die junge Frau. Leonore hob die Tafel auf. Nachdem man sich gegenseitig tief vor einander verbeugt hatte, sprach Joseph mit großer Würde: Du hast sehr vorlieb nehmen müssen, theure Christine; du hast unter meinem väterlichen Dache nichts von den kostbaren Weinen und üppigen Schüsseln gefunden, an welche dich der Luxus deiner Umgebung gewöhnt hat. Aber ich hoffe, daß du die stille Größe, das Herzerhebende einer solchen adeligen Einfachheit liche Deutsch, und er entwarf beredte Schilderungen der schwiegerväterlichen Herrlichkeit in Holland und Indien, von denen seine Frau kein Wort verstand. Diese wandte sich am Schlusse des Soupers mit der Bitte an Leonore, ob sie ihr nicht eine Zimmerreihe nach vorn hinaus einräumen könne, es müsse dort eine weit schönere Aussicht auf den Fluß sich bieten — Leonore erschrak über diese Worte —: Es ist kein Tisch und kein Stuhl in den Zimmern nach vorn, der Kalk ist von den Wänden gefallen, und der Regen tropft durch die Decke, flüsterte sie ihrem Bruder, der neben ihr saß, ins Ohr. Liebe Christine, sagte Joseph mit großer Gemüthsruhe, nach vorn hinaus sind die Empfang- und Wohnzimmer des Vaters — sie sind kostbar eingerichtet, und der Vater hat seine Sammlungen, sein Münz- und Medaillencabinet darin — deßhalb pflegt er sie sehr sorgfältig zu verschließen, wenn er kleine Reisen macht. O! sagte die junge Frau. Leonore hob die Tafel auf. Nachdem man sich gegenseitig tief vor einander verbeugt hatte, sprach Joseph mit großer Würde: Du hast sehr vorlieb nehmen müssen, theure Christine; du hast unter meinem väterlichen Dache nichts von den kostbaren Weinen und üppigen Schüsseln gefunden, an welche dich der Luxus deiner Umgebung gewöhnt hat. Aber ich hoffe, daß du die stille Größe, das Herzerhebende einer solchen adeligen Einfachheit <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0058"/> liche Deutsch, und er entwarf beredte Schilderungen der schwiegerväterlichen Herrlichkeit in Holland und Indien, von denen seine Frau kein Wort verstand. Diese wandte sich am Schlusse des Soupers mit der Bitte an Leonore, ob sie ihr nicht eine Zimmerreihe nach vorn hinaus einräumen könne, es müsse dort eine weit schönere Aussicht auf den Fluß sich bieten — Leonore erschrak über diese Worte —: Es ist kein Tisch und kein Stuhl in den Zimmern nach vorn, der Kalk ist von den Wänden gefallen, und der Regen tropft durch die Decke, flüsterte sie ihrem Bruder, der neben ihr saß, ins Ohr.</p><lb/> <p>Liebe Christine, sagte Joseph mit großer Gemüthsruhe, nach vorn hinaus sind die Empfang- und Wohnzimmer des Vaters — sie sind kostbar eingerichtet, und der Vater hat seine Sammlungen, sein Münz- und Medaillencabinet darin — deßhalb pflegt er sie sehr sorgfältig zu verschließen, wenn er kleine Reisen macht.</p><lb/> <p>O! sagte die junge Frau.</p><lb/> <p>Leonore hob die Tafel auf.</p><lb/> <p>Nachdem man sich gegenseitig tief vor einander verbeugt hatte, sprach Joseph mit großer Würde:</p><lb/> <p>Du hast sehr vorlieb nehmen müssen, theure Christine; du hast unter meinem väterlichen Dache nichts von den kostbaren Weinen und üppigen Schüsseln gefunden, an welche dich der Luxus deiner Umgebung gewöhnt hat. Aber ich hoffe, daß du die stille Größe, das Herzerhebende einer solchen adeligen Einfachheit<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0058]
liche Deutsch, und er entwarf beredte Schilderungen der schwiegerväterlichen Herrlichkeit in Holland und Indien, von denen seine Frau kein Wort verstand. Diese wandte sich am Schlusse des Soupers mit der Bitte an Leonore, ob sie ihr nicht eine Zimmerreihe nach vorn hinaus einräumen könne, es müsse dort eine weit schönere Aussicht auf den Fluß sich bieten — Leonore erschrak über diese Worte —: Es ist kein Tisch und kein Stuhl in den Zimmern nach vorn, der Kalk ist von den Wänden gefallen, und der Regen tropft durch die Decke, flüsterte sie ihrem Bruder, der neben ihr saß, ins Ohr.
Liebe Christine, sagte Joseph mit großer Gemüthsruhe, nach vorn hinaus sind die Empfang- und Wohnzimmer des Vaters — sie sind kostbar eingerichtet, und der Vater hat seine Sammlungen, sein Münz- und Medaillencabinet darin — deßhalb pflegt er sie sehr sorgfältig zu verschließen, wenn er kleine Reisen macht.
O! sagte die junge Frau.
Leonore hob die Tafel auf.
Nachdem man sich gegenseitig tief vor einander verbeugt hatte, sprach Joseph mit großer Würde:
Du hast sehr vorlieb nehmen müssen, theure Christine; du hast unter meinem väterlichen Dache nichts von den kostbaren Weinen und üppigen Schüsseln gefunden, an welche dich der Luxus deiner Umgebung gewöhnt hat. Aber ich hoffe, daß du die stille Größe, das Herzerhebende einer solchen adeligen Einfachheit
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-16T11:53:40Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-16T11:53:40Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |