Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schulz, Friedrich: Reise eines Liefländers. Bd. 2, [H. 3]. Berlin, 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

Diese Kunst, deren Wesen darin besteht,
daß man Dinge zu verbergen wisse, die einen,
nach den Regeln der hergebrachten Sitte, bey
einer gewissen Societät lächerlich oder verächt-
lich machen könnten, ist in Warschau leichter
als anderwärts. Da der Adel die einzige Ge-
sellschaft bildet und den Ton angiebt, so hat
er auf die Gränz Klassen unter sich, (denn
über sich hat er keine) als seine Beurtheile-
rinnen, nicht zu achten; da seine Sitten die
allgemeinen Sitten seiner Cirkel sind; da also
in dem angeregten Punkte, in der Regel, eine
Ehe wie die andre ist, ein Weib, ein Mann,
so denkt, wie das andre, wie der andre: so
sieht man wohl, daß hier die Decenz bey wei-
tem nicht so fein, so streng beobachtet seyn
darf, als z. B. ehemals in Frankreich, wo
die Großen noch einen Hof über sich hatten,
der oft bey einer geheimen, großen Zügellosig-
keit, dennoch sorgfältig auf den äußern Schein
achtete, und wo unter ihnen ein Heer von
hellsehenden Geringern wimmelte, das Ver-

stöße

Dieſe Kunſt, deren Weſen darin beſteht,
daß man Dinge zu verbergen wiſſe, die einen,
nach den Regeln der hergebrachten Sitte, bey
einer gewiſſen Societaͤt laͤcherlich oder veraͤcht-
lich machen koͤnnten, iſt in Warſchau leichter
als anderwaͤrts. Da der Adel die einzige Ge-
ſellſchaft bildet und den Ton angiebt, ſo hat
er auf die Graͤnz Klaſſen unter ſich, (denn
uͤber ſich hat er keine) als ſeine Beurtheile-
rinnen, nicht zu achten; da ſeine Sitten die
allgemeinen Sitten ſeiner Cirkel ſind; da alſo
in dem angeregten Punkte, in der Regel, eine
Ehe wie die andre iſt, ein Weib, ein Mann,
ſo denkt, wie das andre, wie der andre: ſo
ſieht man wohl, daß hier die Decenz bey wei-
tem nicht ſo fein, ſo ſtreng beobachtet ſeyn
darf, als z. B. ehemals in Frankreich, wo
die Großen noch einen Hof uͤber ſich hatten,
der oft bey einer geheimen, großen Zuͤgelloſig-
keit, dennoch ſorgfaͤltig auf den aͤußern Schein
achtete, und wo unter ihnen ein Heer von
hellſehenden Geringern wimmelte, das Ver-

ſtoͤße
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0202" n="192"/>
        <p>Die&#x017F;e Kun&#x017F;t, deren We&#x017F;en darin be&#x017F;teht,<lb/>
daß man Dinge zu verbergen wi&#x017F;&#x017F;e, die einen,<lb/>
nach den Regeln der hergebrachten Sitte, bey<lb/>
einer gewi&#x017F;&#x017F;en Societa&#x0364;t la&#x0364;cherlich oder vera&#x0364;cht-<lb/>
lich machen ko&#x0364;nnten, i&#x017F;t in War&#x017F;chau leichter<lb/>
als anderwa&#x0364;rts. Da der Adel die einzige Ge-<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chaft bildet und den Ton angiebt, &#x017F;o hat<lb/>
er auf die Gra&#x0364;nz Kla&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#g">unter</hi> &#x017F;ich, (denn<lb/><hi rendition="#g">u&#x0364;ber</hi> &#x017F;ich hat er keine) als &#x017F;eine Beurtheile-<lb/>
rinnen, nicht zu achten; da &#x017F;eine Sitten die<lb/>
allgemeinen Sitten &#x017F;einer Cirkel &#x017F;ind; da al&#x017F;o<lb/>
in dem angeregten Punkte, in der Regel, eine<lb/>
Ehe wie die andre i&#x017F;t, ein Weib, ein Mann,<lb/>
&#x017F;o denkt, wie das andre, wie der andre: &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ieht man wohl, daß hier die Decenz bey wei-<lb/>
tem nicht &#x017F;o fein, &#x017F;o &#x017F;treng beobachtet &#x017F;eyn<lb/>
darf, als z. B. ehemals in Frankreich, wo<lb/>
die Großen noch einen Hof u&#x0364;ber &#x017F;ich hatten,<lb/>
der oft bey einer geheimen, großen Zu&#x0364;gello&#x017F;ig-<lb/>
keit, dennoch &#x017F;orgfa&#x0364;ltig auf den a&#x0364;ußern Schein<lb/>
achtete, und wo unter ihnen ein Heer von<lb/>
hell&#x017F;ehenden Geringern wimmelte, das Ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;to&#x0364;ße</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0202] Dieſe Kunſt, deren Weſen darin beſteht, daß man Dinge zu verbergen wiſſe, die einen, nach den Regeln der hergebrachten Sitte, bey einer gewiſſen Societaͤt laͤcherlich oder veraͤcht- lich machen koͤnnten, iſt in Warſchau leichter als anderwaͤrts. Da der Adel die einzige Ge- ſellſchaft bildet und den Ton angiebt, ſo hat er auf die Graͤnz Klaſſen unter ſich, (denn uͤber ſich hat er keine) als ſeine Beurtheile- rinnen, nicht zu achten; da ſeine Sitten die allgemeinen Sitten ſeiner Cirkel ſind; da alſo in dem angeregten Punkte, in der Regel, eine Ehe wie die andre iſt, ein Weib, ein Mann, ſo denkt, wie das andre, wie der andre: ſo ſieht man wohl, daß hier die Decenz bey wei- tem nicht ſo fein, ſo ſtreng beobachtet ſeyn darf, als z. B. ehemals in Frankreich, wo die Großen noch einen Hof uͤber ſich hatten, der oft bey einer geheimen, großen Zuͤgelloſig- keit, dennoch ſorgfaͤltig auf den aͤußern Schein achtete, und wo unter ihnen ein Heer von hellſehenden Geringern wimmelte, das Ver- ſtoͤße

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schulz_reise0201_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schulz_reise0201_1795/202
Zitationshilfe: Schulz, Friedrich: Reise eines Liefländers. Bd. 2, [H. 3]. Berlin, 1795, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schulz_reise0201_1795/202>, abgerufen am 24.11.2024.