Schulz, Friedrich: Reise eines Liefländers. Bd. 3, [H. 5 u. H. 6]. Berlin, 1795.Aus den Zügen von Begeisterung, welche einen Brief, der den Eindruck sehr lebhaft malt,
welchen die Künstlerin auf das dortige Publikum gemacht hat, und theile diese Schilderung, die zu- gleich den Charakter ihres Tanzes so treffend angiebt, mit. "Ach, was haben Sie versäumt!" (die Brief- stellerin wußte nicht, daß ich diese Tänzerin gesehen hatte) "Sie haben die Vigano nicht tanzen sehen! Denken Sie sich nicht etwa -- einen grazienhaften Wuchs -- keine elegante Französin -- keinen großen Anstand in "panier" und "panache" -- keinen "grand- oder demi-charactere " -- kein "tour de jambe" -- keine "pirouette" -- Mit einem male steht sie da, mitten auf dem Theater, und ist unter den übrigen Puppen, das einzige lebende Wesen! -- Man ist außer sich -- hingerissen von einem fremden Gegenstande, aber nur fremd unserm körperlichen Auge, nicht dem geistigen, nicht unserm Gedächtniß. Man hat diesen Anzug, diese Stellung, diese Züge schon gesehen. Man erstaunt nicht, aber man ist im Innersten gerührt. Sie bewegt sich endlich und es entsteht eine tiefe Stille. Sie tanzt eigentlich gar nicht; sie schwebt in den reizendsten Stellungen auf dem Theater. Sie steht wieder still -- sie horcht. Er wird kommen! Ja, es muß je- Aus den Zuͤgen von Begeiſterung, welche einen Brief, der den Eindruck ſehr lebhaft malt,
welchen die Kuͤnſtlerin auf das dortige Publikum gemacht hat, und theile dieſe Schilderung, die zu- gleich den Charakter ihres Tanzes ſo treffend angiebt, mit. „Ach, was haben Sie verſaͤumt!“ (die Brief- ſtellerin wußte nicht, daß ich dieſe Taͤnzerin geſehen hatte) „Sie haben die Vigano nicht tanzen ſehen! Denken Sie ſich nicht etwa — einen grazienhaften Wuchs — keine elegante Franzoͤſin — keinen großen Anſtand in „panier“ und „panache“ — keinen „grand- oder demi-charactère “ — kein „tour de jambe“ — keine „pirouette“ — Mit einem male ſteht ſie da, mitten auf dem Theater, und iſt unter den uͤbrigen Puppen, das einzige lebende Weſen! — Man iſt außer ſich — hingeriſſen von einem fremden Gegenſtande, aber nur fremd unſerm koͤrperlichen Auge, nicht dem geiſtigen, nicht unſerm Gedaͤchtniß. Man hat dieſen Anzug, dieſe Stellung, dieſe Zuͤge ſchon geſehen. Man erſtaunt nicht, aber man iſt im Innerſten geruͤhrt. Sie bewegt ſich endlich und es entſteht eine tiefe Stille. Sie tanzt eigentlich gar nicht; ſie ſchwebt in den reizendſten Stellungen auf dem Theater. Sie ſteht wieder ſtill — ſie horcht. Er wird kommen! Ja, es muß je- <TEI> <text> <body> <div> <floatingText> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0477" n="205"/> <p>Aus den Zuͤgen von Begeiſterung, welche<lb/> die Wiener bey dieſer Gelegenheit entwickel-<lb/><note next="#seg2pn_6_3" xml:id="seg2pn_6_2" prev="#seg2pn_6_1" place="foot" n="*)">einen Brief, der den Eindruck ſehr lebhaft malt,<lb/> welchen die Kuͤnſtlerin auf das dortige Publikum<lb/> gemacht hat, und theile dieſe Schilderung, die zu-<lb/> gleich den Charakter ihres Tanzes ſo treffend angiebt,<lb/> mit. „Ach, was haben Sie verſaͤumt!“ (die Brief-<lb/> ſtellerin wußte nicht, daß ich dieſe Taͤnzerin geſehen<lb/> hatte) „Sie haben die Vigano nicht tanzen ſehen!<lb/> Denken Sie ſich nicht etwa — einen grazienhaften<lb/> Wuchs — keine elegante Franzoͤſin — keinen großen<lb/> Anſtand in <hi rendition="#aq">„panier“</hi> und <hi rendition="#aq">„panache“</hi> — keinen<lb/><hi rendition="#aq">„grand- oder demi-charactère “</hi> — kein <hi rendition="#aq">„tour<lb/> de jambe“</hi> — keine <hi rendition="#aq">„pirouette“</hi> — Mit einem<lb/> male ſteht ſie da, mitten auf dem Theater, und<lb/> iſt unter den uͤbrigen Puppen, das einzige lebende<lb/> Weſen! — Man iſt außer ſich — hingeriſſen von<lb/> einem fremden Gegenſtande, aber nur fremd unſerm<lb/> koͤrperlichen Auge, nicht dem geiſtigen, nicht unſerm<lb/> Gedaͤchtniß. Man hat dieſen Anzug, dieſe Stellung,<lb/> dieſe Zuͤge ſchon geſehen. Man erſtaunt nicht, aber<lb/> man iſt im Innerſten geruͤhrt. Sie bewegt ſich<lb/> endlich und es entſteht eine tiefe Stille. Sie tanzt<lb/> eigentlich gar nicht; ſie ſchwebt in den reizendſten<lb/> Stellungen auf dem Theater. Sie ſteht wieder ſtill<lb/> — ſie horcht. Er wird kommen! Ja, es muß je-</note><lb/></p> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [205/0477]
Aus den Zuͤgen von Begeiſterung, welche
die Wiener bey dieſer Gelegenheit entwickel-
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*) einen Brief, der den Eindruck ſehr lebhaft malt,
welchen die Kuͤnſtlerin auf das dortige Publikum
gemacht hat, und theile dieſe Schilderung, die zu-
gleich den Charakter ihres Tanzes ſo treffend angiebt,
mit. „Ach, was haben Sie verſaͤumt!“ (die Brief-
ſtellerin wußte nicht, daß ich dieſe Taͤnzerin geſehen
hatte) „Sie haben die Vigano nicht tanzen ſehen!
Denken Sie ſich nicht etwa — einen grazienhaften
Wuchs — keine elegante Franzoͤſin — keinen großen
Anſtand in „panier“ und „panache“ — keinen
„grand- oder demi-charactère “ — kein „tour
de jambe“ — keine „pirouette“ — Mit einem
male ſteht ſie da, mitten auf dem Theater, und
iſt unter den uͤbrigen Puppen, das einzige lebende
Weſen! — Man iſt außer ſich — hingeriſſen von
einem fremden Gegenſtande, aber nur fremd unſerm
koͤrperlichen Auge, nicht dem geiſtigen, nicht unſerm
Gedaͤchtniß. Man hat dieſen Anzug, dieſe Stellung,
dieſe Zuͤge ſchon geſehen. Man erſtaunt nicht, aber
man iſt im Innerſten geruͤhrt. Sie bewegt ſich
endlich und es entſteht eine tiefe Stille. Sie tanzt
eigentlich gar nicht; ſie ſchwebt in den reizendſten
Stellungen auf dem Theater. Sie ſteht wieder ſtill
— ſie horcht. Er wird kommen! Ja, es muß je-
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