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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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dern getreu war, vorangeeilt, und hatte kaum Zeit gehabt,
die Entdeckung ihres Frevels und den Beschluß, den das
Volk von Delphi gefasst hätte, ihr zu melden. Ihre
Dienerinnen schaarten sich um sie. "Halte dich fest am
Altare, Gebieterin," riefen sie, "denn sollte dich auch der
heilige Ort nicht vor deinen Mördern schützen, so wer¬
den sie doch durch deine Ermordung eine unsühnbare
Blutschuld auf sich laden!" Indessen kam die tobende
Schaar der Delphier, von Ion angeführt, dem Altare
immer näher. Noch ehe sie bei demselben angelangt wa¬
ren, hörte man des Jünglings zürnende Worte, die der
Wind durch die Luft führte: "Die Götter haben es gut
mit mir gemeint," rief er in lautem Grimme, "daß dieser
Frevel mich von der Stiefmutter befreien sollte, die mich
zu Athen erwartete. Wo ist die Verruchte, die Viper
mit der Giftzunge, der Drache mit dem todspeienden
Flammenauge? Auf, daß die Mörderin vom höchsten
Felsen in den Abgrund gestürzt werde!" Das ihn be¬
gleitende Volk brüllte Beifall.

Jetzt waren sie am Altare angekommen und Ion
zerrte an der Frau, die seine Mutter war, und in der
er nur seine Todfeindin erkannte, um sie von dem Asyl,
auf dessen Heiligkeit und Unverletzlichkeit sie sich berief,
hinwegzureißen. Aber Apollo wollte nicht, daß sein eige¬
ner Sohn der Mörder seiner Mutter würde. Auf seinen
göttlichen Wink war das Gerücht von dem gedrohten
Verbrechen Kreusens und der Strafe, welche sie dafür er¬
warte, schnell bis in den Tempel und zu den Ohren der
Priesterin gedrungen, und der Gott hatte ihren Sinn er¬
leuchtet, so daß sie einen raschen Blick in den Zusammen¬
hang aller Ereignisse warf, und ihr plötzlich klar wurde,

dern getreu war, vorangeeilt, und hatte kaum Zeit gehabt,
die Entdeckung ihres Frevels und den Beſchluß, den das
Volk von Delphi gefaſſt hätte, ihr zu melden. Ihre
Dienerinnen ſchaarten ſich um ſie. „Halte dich feſt am
Altare, Gebieterin,“ riefen ſie, „denn ſollte dich auch der
heilige Ort nicht vor deinen Mördern ſchützen, ſo wer¬
den ſie doch durch deine Ermordung eine unſühnbare
Blutſchuld auf ſich laden!“ Indeſſen kam die tobende
Schaar der Delphier, von Ion angeführt, dem Altare
immer näher. Noch ehe ſie bei demſelben angelangt wa¬
ren, hörte man des Jünglings zürnende Worte, die der
Wind durch die Luft führte: „Die Götter haben es gut
mit mir gemeint,“ rief er in lautem Grimme, „daß dieſer
Frevel mich von der Stiefmutter befreien ſollte, die mich
zu Athen erwartete. Wo iſt die Verruchte, die Viper
mit der Giftzunge, der Drache mit dem todſpeienden
Flammenauge? Auf, daß die Mörderin vom höchſten
Felſen in den Abgrund geſtürzt werde!” Das ihn be¬
gleitende Volk brüllte Beifall.

Jetzt waren ſie am Altare angekommen und Ion
zerrte an der Frau, die ſeine Mutter war, und in der
er nur ſeine Todfeindin erkannte, um ſie von dem Aſyl,
auf deſſen Heiligkeit und Unverletzlichkeit ſie ſich berief,
hinwegzureißen. Aber Apollo wollte nicht, daß ſein eige¬
ner Sohn der Mörder ſeiner Mutter würde. Auf ſeinen
göttlichen Wink war das Gerücht von dem gedrohten
Verbrechen Krëuſens und der Strafe, welche ſie dafür er¬
warte, ſchnell bis in den Tempel und zu den Ohren der
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[78/0104] dern getreu war, vorangeeilt, und hatte kaum Zeit gehabt, die Entdeckung ihres Frevels und den Beſchluß, den das Volk von Delphi gefaſſt hätte, ihr zu melden. Ihre Dienerinnen ſchaarten ſich um ſie. „Halte dich feſt am Altare, Gebieterin,“ riefen ſie, „denn ſollte dich auch der heilige Ort nicht vor deinen Mördern ſchützen, ſo wer¬ den ſie doch durch deine Ermordung eine unſühnbare Blutſchuld auf ſich laden!“ Indeſſen kam die tobende Schaar der Delphier, von Ion angeführt, dem Altare immer näher. Noch ehe ſie bei demſelben angelangt wa¬ ren, hörte man des Jünglings zürnende Worte, die der Wind durch die Luft führte: „Die Götter haben es gut mit mir gemeint,“ rief er in lautem Grimme, „daß dieſer Frevel mich von der Stiefmutter befreien ſollte, die mich zu Athen erwartete. Wo iſt die Verruchte, die Viper mit der Giftzunge, der Drache mit dem todſpeienden Flammenauge? Auf, daß die Mörderin vom höchſten Felſen in den Abgrund geſtürzt werde!” Das ihn be¬ gleitende Volk brüllte Beifall. Jetzt waren ſie am Altare angekommen und Ion zerrte an der Frau, die ſeine Mutter war, und in der er nur ſeine Todfeindin erkannte, um ſie von dem Aſyl, auf deſſen Heiligkeit und Unverletzlichkeit ſie ſich berief, hinwegzureißen. Aber Apollo wollte nicht, daß ſein eige¬ ner Sohn der Mörder ſeiner Mutter würde. Auf ſeinen göttlichen Wink war das Gerücht von dem gedrohten Verbrechen Krëuſens und der Strafe, welche ſie dafür er¬ warte, ſchnell bis in den Tempel und zu den Ohren der Prieſterin gedrungen, und der Gott hatte ihren Sinn er¬ leuchtet, ſo daß ſie einen raſchen Blick in den Zuſammen¬ hang aller Ereigniſſe warf, und ihr plötzlich klar wurde,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/104>, abgerufen am 22.11.2024.