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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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daß ihr Pflegling Jon nicht des Xuthus, wie sie selbst
nebelhaft prophezeit hatte, sondern Apollo's und Kreusa's
Sohn sey. Sie verließ den Dreifuß und suchte das
Kistchen hervor, in welchem der neugeborene Knabe samt
einigen Erkennungszeichen, die sie gleichfalls sorgsam auf¬
bewahrt hatte, einst zu Delphi vor dem Tempelthor aus¬
gesetzt worden war. Mit diesem im Arme eilte sie ins
Freie und nach dem Altare, wo Kreusa gegen den ein¬
dringenden Jon um ihr Leben kämpfte. Als Jon die
Priesterin herannahen sah, ließ er sogleich von seiner
Beute ab, ging ihr ehrerbietig entgegen und rief: "Sey
mir willkommen, liebe Mutter, denn so muß ich dich nen¬
nen, obgleich du mich nicht geboren hast! hörst du, wel¬
chen Nachstellungen ich entgangen bin? Kaum habe ich
einen Vater gefunden, so sinnt auch schon die böse Stief¬
mutter auf meinen Tod! Nun sage mir, Mutter, was
soll ich thun; denn deiner Mahnung will ich folgen!"
Die Priesterin erhob warnend ihren Finger und sprach:
"Jon, geh mit unbefleckter Hand und unter günstigen
Vogelzeichen nach Athen!" Jon besann sich eine Weile,
eh er antwortete. "Ist denn der nicht fleckenlos, sprach
er endlich, der seine Feinde tödtet?" -- "Thue du nicht
also, bis du mich gehört hast," sagte die ehrwürdige
Frau. "Siehst du dieß alte Körbchen, das ich, mit fri¬
schen Kränzen umwunden, in meinen Armen trage? In
diesem bist du einst ausgesetzt worden, aus ihm habe ich
dich hervorgezogen." Jon staunte. "Davon, Mutter,
sprach er, hast du mir nie etwas gesagt. Warum hast
du es so lange vor mir verborgen?" "Weil der Gott,
antwortete die Priesterin, dich bis hierher zu seinem Prie¬
ster haben wollte. Jetzt, wo er dir einen Vater gegeben

daß ihr Pflegling Jon nicht des Xuthus, wie ſie ſelbſt
nebelhaft prophezeit hatte, ſondern Apollo’s und Krëuſa’s
Sohn ſey. Sie verließ den Dreifuß und ſuchte das
Kiſtchen hervor, in welchem der neugeborene Knabe ſamt
einigen Erkennungszeichen, die ſie gleichfalls ſorgſam auf¬
bewahrt hatte, einſt zu Delphi vor dem Tempelthor aus¬
geſetzt worden war. Mit dieſem im Arme eilte ſie ins
Freie und nach dem Altare, wo Krëuſa gegen den ein¬
dringenden Jon um ihr Leben kämpfte. Als Jon die
Prieſterin herannahen ſah, ließ er ſogleich von ſeiner
Beute ab, ging ihr ehrerbietig entgegen und rief: „Sey
mir willkommen, liebe Mutter, denn ſo muß ich dich nen¬
nen, obgleich du mich nicht geboren haſt! hörſt du, wel¬
chen Nachſtellungen ich entgangen bin? Kaum habe ich
einen Vater gefunden, ſo ſinnt auch ſchon die böſe Stief¬
mutter auf meinen Tod! Nun ſage mir, Mutter, was
ſoll ich thun; denn deiner Mahnung will ich folgen!“
Die Prieſterin erhob warnend ihren Finger und ſprach:
„Jon, geh mit unbefleckter Hand und unter günſtigen
Vogelzeichen nach Athen!“ Jon beſann ſich eine Weile,
eh er antwortete. „Iſt denn der nicht fleckenlos, ſprach
er endlich, der ſeine Feinde tödtet?“ — „Thue du nicht
alſo, bis du mich gehört haſt,“ ſagte die ehrwürdige
Frau. „Siehſt du dieß alte Körbchen, das ich, mit fri¬
ſchen Kränzen umwunden, in meinen Armen trage? In
dieſem biſt du einſt ausgeſetzt worden, aus ihm habe ich
dich hervorgezogen.“ Jon ſtaunte. „Davon, Mutter,
ſprach er, haſt du mir nie etwas geſagt. Warum haſt
du es ſo lange vor mir verborgen?“ „Weil der Gott,
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[79/0105] daß ihr Pflegling Jon nicht des Xuthus, wie ſie ſelbſt nebelhaft prophezeit hatte, ſondern Apollo’s und Krëuſa’s Sohn ſey. Sie verließ den Dreifuß und ſuchte das Kiſtchen hervor, in welchem der neugeborene Knabe ſamt einigen Erkennungszeichen, die ſie gleichfalls ſorgſam auf¬ bewahrt hatte, einſt zu Delphi vor dem Tempelthor aus¬ geſetzt worden war. Mit dieſem im Arme eilte ſie ins Freie und nach dem Altare, wo Krëuſa gegen den ein¬ dringenden Jon um ihr Leben kämpfte. Als Jon die Prieſterin herannahen ſah, ließ er ſogleich von ſeiner Beute ab, ging ihr ehrerbietig entgegen und rief: „Sey mir willkommen, liebe Mutter, denn ſo muß ich dich nen¬ nen, obgleich du mich nicht geboren haſt! hörſt du, wel¬ chen Nachſtellungen ich entgangen bin? Kaum habe ich einen Vater gefunden, ſo ſinnt auch ſchon die böſe Stief¬ mutter auf meinen Tod! Nun ſage mir, Mutter, was ſoll ich thun; denn deiner Mahnung will ich folgen!“ Die Prieſterin erhob warnend ihren Finger und ſprach: „Jon, geh mit unbefleckter Hand und unter günſtigen Vogelzeichen nach Athen!“ Jon beſann ſich eine Weile, eh er antwortete. „Iſt denn der nicht fleckenlos, ſprach er endlich, der ſeine Feinde tödtet?“ — „Thue du nicht alſo, bis du mich gehört haſt,“ ſagte die ehrwürdige Frau. „Siehſt du dieß alte Körbchen, das ich, mit fri¬ ſchen Kränzen umwunden, in meinen Armen trage? In dieſem biſt du einſt ausgeſetzt worden, aus ihm habe ich dich hervorgezogen.“ Jon ſtaunte. „Davon, Mutter, ſprach er, haſt du mir nie etwas geſagt. Warum haſt du es ſo lange vor mir verborgen?“ „Weil der Gott, antwortete die Prieſterin, dich bis hierher zu ſeinem Prie¬ ſter haben wollte. Jetzt, wo er dir einen Vater gegeben

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/105>, abgerufen am 23.11.2024.