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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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hat, entläßt er dich nach Athen." -- "Was soll mir aber
dieses Kistchen helfen?" fragte Ion weiter. "Es enthält
die Windeln, in welchen du ausgesetzt worden bist, lieber
Sohn!" antwortete die Priesterin. "Meine Windeln?"
sprach Ion heftig. "Nun, das ist ja eine Spur, die mich
auf meine rechte Mutter führen kann. O erwünschte Ent¬
deckung!" Die Priesterin hielt ihm nun das offene Kist¬
chen hin und Ion griff gierig hinein, und zog die rein¬
lich zusammengewickelte Leinwand heraus. Während er
seine bethränten Augen auf die kostbaren Ueberbleibsel
heftete, hatte sich Kreusa's Angst allmählig verloren und
ein Blick auf das Kistchen ihr die ganze Wahrheit ent¬
deckt. Mit einem Sprunge verließ sie den Altar und
mit dem Freudenrufe: "Sohn!" hielt sie den staunenden
Ion umschlungen. Diesem schlich sich aufs neue Mi߬
trauen ins Herz, er fürchtete die Umarmungen der Frem¬
den als eine Hinterlist und wollte sich unwillig losma¬
chen. Aber Kreusa selbst raffte sich zusammen, trat ei¬
nige Schritte zurück und sprach: "Diese Leinwand soll
für mich zeugen, Kind! Wickle sie getrost auseinander,
du wirst die Zeichen finden, die ich dir angebe. Die
Stickerei, die sie schmückt, ist das Werk meiner mädchen¬
haften Nadel. In der Mitte des Gewebes muß sich das
Gorgonenhaupt finden, umringt von Schlangen, wie auf
dem Aegisschilde!" Ungläubig entfaltete Ion die Windeln,
aber mit einem plötzlichen Freudenschrei rief er aus: "O
großer Jupiter, hier ist die Gorgone, hier sind die Schlangen!"
-- Noch nicht genug, sprach Kreusa, es müssen in dem Kistchen
auch kleine goldne Drachen seyn, zur Erinnerung an die
Drachen in der Kiste des Erichthonius; ein Halsschmuck
für das neugeborne Knäbchen." Ion durchforschte den

hat, entläßt er dich nach Athen.“ — „Was ſoll mir aber
dieſes Kiſtchen helfen?“ fragte Ion weiter. „Es enthält
die Windeln, in welchen du ausgeſetzt worden biſt, lieber
Sohn!“ antwortete die Prieſterin. „Meine Windeln?“
ſprach Ion heftig. „Nun, das iſt ja eine Spur, die mich
auf meine rechte Mutter führen kann. O erwünſchte Ent¬
deckung!“ Die Prieſterin hielt ihm nun das offene Kiſt¬
chen hin und Ion griff gierig hinein, und zog die rein¬
lich zuſammengewickelte Leinwand heraus. Während er
ſeine bethränten Augen auf die koſtbaren Ueberbleibſel
heftete, hatte ſich Krëuſa's Angſt allmählig verloren und
ein Blick auf das Kiſtchen ihr die ganze Wahrheit ent¬
deckt. Mit einem Sprunge verließ ſie den Altar und
mit dem Freudenrufe: „Sohn!“ hielt ſie den ſtaunenden
Ion umſchlungen. Dieſem ſchlich ſich aufs neue Mi߬
trauen ins Herz, er fürchtete die Umarmungen der Frem¬
den als eine Hinterliſt und wollte ſich unwillig losma¬
chen. Aber Krëuſa ſelbſt raffte ſich zuſammen, trat ei¬
nige Schritte zurück und ſprach: „Dieſe Leinwand ſoll
für mich zeugen, Kind! Wickle ſie getroſt auseinander,
du wirſt die Zeichen finden, die ich dir angebe. Die
Stickerei, die ſie ſchmückt, iſt das Werk meiner mädchen¬
haften Nadel. In der Mitte des Gewebes muß ſich das
Gorgonenhaupt finden, umringt von Schlangen, wie auf
dem Aegisſchilde!“ Ungläubig entfaltete Ion die Windeln,
aber mit einem plötzlichen Freudenſchrei rief er aus: „O
großer Jupiter, hier iſt die Gorgone, hier ſind die Schlangen!“
— Noch nicht genug, ſprach Krëuſa, es müſſen in dem Kiſtchen
auch kleine goldne Drachen ſeyn, zur Erinnerung an die
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[80/0106] hat, entläßt er dich nach Athen.“ — „Was ſoll mir aber dieſes Kiſtchen helfen?“ fragte Ion weiter. „Es enthält die Windeln, in welchen du ausgeſetzt worden biſt, lieber Sohn!“ antwortete die Prieſterin. „Meine Windeln?“ ſprach Ion heftig. „Nun, das iſt ja eine Spur, die mich auf meine rechte Mutter führen kann. O erwünſchte Ent¬ deckung!“ Die Prieſterin hielt ihm nun das offene Kiſt¬ chen hin und Ion griff gierig hinein, und zog die rein¬ lich zuſammengewickelte Leinwand heraus. Während er ſeine bethränten Augen auf die koſtbaren Ueberbleibſel heftete, hatte ſich Krëuſa's Angſt allmählig verloren und ein Blick auf das Kiſtchen ihr die ganze Wahrheit ent¬ deckt. Mit einem Sprunge verließ ſie den Altar und mit dem Freudenrufe: „Sohn!“ hielt ſie den ſtaunenden Ion umſchlungen. Dieſem ſchlich ſich aufs neue Mi߬ trauen ins Herz, er fürchtete die Umarmungen der Frem¬ den als eine Hinterliſt und wollte ſich unwillig losma¬ chen. Aber Krëuſa ſelbſt raffte ſich zuſammen, trat ei¬ nige Schritte zurück und ſprach: „Dieſe Leinwand ſoll für mich zeugen, Kind! Wickle ſie getroſt auseinander, du wirſt die Zeichen finden, die ich dir angebe. Die Stickerei, die ſie ſchmückt, iſt das Werk meiner mädchen¬ haften Nadel. In der Mitte des Gewebes muß ſich das Gorgonenhaupt finden, umringt von Schlangen, wie auf dem Aegisſchilde!“ Ungläubig entfaltete Ion die Windeln, aber mit einem plötzlichen Freudenſchrei rief er aus: „O großer Jupiter, hier iſt die Gorgone, hier ſind die Schlangen!“ — Noch nicht genug, ſprach Krëuſa, es müſſen in dem Kiſtchen auch kleine goldne Drachen ſeyn, zur Erinnerung an die Drachen in der Kiſte des Erichthonius; ein Halsſchmuck für das neugeborne Knäbchen.“ Ion durchforſchte den

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/106>, abgerufen am 03.05.2024.