Korb weiter und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch die Drachenbilder hervor. "Das letzte Zeichen, rief Kreusa, muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven seyn, die vom erstgepflanzten Oelbaume Minervens stammen, und den ich meinem neugebornen Knaben aufgesetzt." Jon durchsuchte den Grund des Kistchens, und seine Hand brachte einen schönen grünen Olivenkranz hervor. "Mutter, Mutter!" rief er mit einer von schluchzenden Thränen unterbrochenen Stimme, fiel Kreusen um den Hals und bedeckte ihre Wangen mit Küssen. Endlich riß er sich von ihrem Halse los, und verlangte nach seinem Vater Xuthus. Da entdeckte ihm Kreusa das Geheimniß seiner Geburt und wie er des Gottes Sohn sey, dem er so lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Kreusens wurden ihm jetzt klar, und er fand selbst den verzweifel¬ ten Anschlag seiner Mutter auf des unerkannten Sohnes Leben verzeihlich. Xuthus nahm den Jon, obgleich nur als Stiefsohn, doch auch so als ein theures Götterge¬ schenk in seine Arme und alle drei erschienen wieder im Tempel, dem Gotte zu danken. Die Priesterin aber weis¬ sagte von ihrem Dreifuß herab, daß Jon der Vater ei¬ nes großen Stammes werden sollte, Jonier nach seinem Namen genannt; auch dem Xuthus weissagte sie Nach¬ kommenschaft von Kreusen, einen Sohn, der Dorus heißen sollte, und der weltberühmten Dorier Vater werden. Mit so freudigen Erfüllungen und Hoffnungen brach das Fürstenpaar von Athen mit dem glücklich ge¬ fundenen Sohn nach der Heimath auf, und alle Einwoh¬ ner Delphi's gaben ihm das Geleite.
Schwab, das klass. Alterthum. I. 6
Korb weiter und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch die Drachenbilder hervor. „Das letzte Zeichen, rief Krëuſa, muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven ſeyn, die vom erſtgepflanzten Oelbaume Minervens ſtammen, und den ich meinem neugebornen Knaben aufgeſetzt.“ Jon durchſuchte den Grund des Kiſtchens, und ſeine Hand brachte einen ſchönen grünen Olivenkranz hervor. „Mutter, Mutter!“ rief er mit einer von ſchluchzenden Thränen unterbrochenen Stimme, fiel Krëuſen um den Hals und bedeckte ihre Wangen mit Küſſen. Endlich riß er ſich von ihrem Halſe los, und verlangte nach ſeinem Vater Xuthus. Da entdeckte ihm Krëuſa das Geheimniß ſeiner Geburt und wie er des Gottes Sohn ſey, dem er ſo lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëuſens wurden ihm jetzt klar, und er fand ſelbſt den verzweifel¬ ten Anſchlag ſeiner Mutter auf des unerkannten Sohnes Leben verzeihlich. Xuthus nahm den Jon, obgleich nur als Stiefſohn, doch auch ſo als ein theures Götterge¬ ſchenk in ſeine Arme und alle drei erſchienen wieder im Tempel, dem Gotte zu danken. Die Prieſterin aber weiſ¬ ſagte von ihrem Dreifuß herab, daß Jon der Vater ei¬ nes großen Stammes werden ſollte, Jonier nach ſeinem Namen genannt; auch dem Xuthus weiſſagte ſie Nach¬ kommenſchaft von Krëuſen, einen Sohn, der Dorus heißen ſollte, und der weltberühmten Dorier Vater werden. Mit ſo freudigen Erfüllungen und Hoffnungen brach das Fürſtenpaar von Athen mit dem glücklich ge¬ fundenen Sohn nach der Heimath auf, und alle Einwoh¬ ner Delphi's gaben ihm das Geleite.
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 6
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0107"n="81"/>
Korb weiter und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch<lb/>
die Drachenbilder hervor. „Das letzte Zeichen, rief Kr<hirendition="#aq">ë</hi>uſa,<lb/>
muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven ſeyn, die<lb/>
vom erſtgepflanzten Oelbaume Minervens ſtammen, und<lb/>
den ich meinem neugebornen Knaben aufgeſetzt.“ Jon<lb/>
durchſuchte den Grund des Kiſtchens, und ſeine Hand brachte<lb/>
einen ſchönen grünen Olivenkranz hervor. „Mutter,<lb/>
Mutter!“ rief er mit einer von ſchluchzenden Thränen<lb/>
unterbrochenen Stimme, fiel Kr<hirendition="#aq">ë</hi>uſen um den Hals und<lb/>
bedeckte ihre Wangen mit Küſſen. Endlich riß er ſich<lb/>
von ihrem Halſe los, und verlangte nach ſeinem Vater<lb/>
Xuthus. Da entdeckte ihm Kr<hirendition="#aq">ë</hi>uſa das Geheimniß ſeiner<lb/>
Geburt und wie er des Gottes Sohn ſey, dem er ſo<lb/>
lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die<lb/>
früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëuſens<lb/>
wurden ihm jetzt klar, und er fand ſelbſt den verzweifel¬<lb/>
ten Anſchlag ſeiner Mutter auf des unerkannten Sohnes<lb/>
Leben verzeihlich. Xuthus nahm den Jon, obgleich nur<lb/>
als Stiefſohn, doch auch ſo als ein theures Götterge¬<lb/>ſchenk in ſeine Arme und alle drei erſchienen wieder im<lb/>
Tempel, dem Gotte zu danken. Die Prieſterin aber weiſ¬<lb/>ſagte von ihrem Dreifuß herab, daß <hirendition="#g">Jon</hi> der Vater ei¬<lb/>
nes großen Stammes werden ſollte, <hirendition="#g">Jonier</hi> nach ſeinem<lb/>
Namen genannt; auch dem Xuthus weiſſagte ſie Nach¬<lb/>
kommenſchaft von Kr<hirendition="#aq">ë</hi>uſen, einen Sohn, der <hirendition="#g">Dorus</hi><lb/>
heißen ſollte, und der weltberühmten <hirendition="#g">Dorier</hi> Vater<lb/>
werden. Mit ſo freudigen Erfüllungen und Hoffnungen<lb/>
brach das Fürſtenpaar von Athen mit dem glücklich ge¬<lb/>
fundenen Sohn nach der Heimath auf, und alle Einwoh¬<lb/>
ner Delphi's gaben ihm das Geleite.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><fwplace="bottom"type="sig">Schwab, das klaſſ. Alterthum. <hirendition="#aq">I</hi>. 6<lb/></fw></div></div></body></text></TEI>
[81/0107]
Korb weiter und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch
die Drachenbilder hervor. „Das letzte Zeichen, rief Krëuſa,
muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven ſeyn, die
vom erſtgepflanzten Oelbaume Minervens ſtammen, und
den ich meinem neugebornen Knaben aufgeſetzt.“ Jon
durchſuchte den Grund des Kiſtchens, und ſeine Hand brachte
einen ſchönen grünen Olivenkranz hervor. „Mutter,
Mutter!“ rief er mit einer von ſchluchzenden Thränen
unterbrochenen Stimme, fiel Krëuſen um den Hals und
bedeckte ihre Wangen mit Küſſen. Endlich riß er ſich
von ihrem Halſe los, und verlangte nach ſeinem Vater
Xuthus. Da entdeckte ihm Krëuſa das Geheimniß ſeiner
Geburt und wie er des Gottes Sohn ſey, dem er ſo
lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die
früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëuſens
wurden ihm jetzt klar, und er fand ſelbſt den verzweifel¬
ten Anſchlag ſeiner Mutter auf des unerkannten Sohnes
Leben verzeihlich. Xuthus nahm den Jon, obgleich nur
als Stiefſohn, doch auch ſo als ein theures Götterge¬
ſchenk in ſeine Arme und alle drei erſchienen wieder im
Tempel, dem Gotte zu danken. Die Prieſterin aber weiſ¬
ſagte von ihrem Dreifuß herab, daß Jon der Vater ei¬
nes großen Stammes werden ſollte, Jonier nach ſeinem
Namen genannt; auch dem Xuthus weiſſagte ſie Nach¬
kommenſchaft von Krëuſen, einen Sohn, der Dorus
heißen ſollte, und der weltberühmten Dorier Vater
werden. Mit ſo freudigen Erfüllungen und Hoffnungen
brach das Fürſtenpaar von Athen mit dem glücklich ge¬
fundenen Sohn nach der Heimath auf, und alle Einwoh¬
ner Delphi's gaben ihm das Geleite.
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 6
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/107>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.