drehte. Auch andere künstliche Werkzeuge ersann er, alles ohne die Hülfe seines Lehrers, und erwarb sich damit hohen Ruhm. Dädalus fing an zu befürchten, der Name des Schülers möchte größer werden, als der des Meisters, der Neid übermannte ihn, und er brachte den Knaben hinter¬ listig um, indem er ihn von Minerva's Burg herabstürzte. Während Dädalus mit seinem Begräbnisse beschäftigt war, wurde er überrascht; er gab vor eine Schlange zu verscharren. Dennoch wurde er vor dem Gerichte des Areopagus wegen eines Mordes angeklagt und schuldig befunden. Er entwich nun und irrte anfangs flüchtig in Attika umher, bis er weiter nach der Insel Kreta floh. Hier fand er bei dem Könige Minos eine Freistätte, ward dessen Freund und als berühmter Künstler hoch angesehen. Er wurde von ihm ausgewählt, um dem Minotaurus, einem Ungeheuer von abscheulicher Abkunst, der ein Dop¬ pelwesen war, das vom Kopfe bis an die Schultern die Gestalt eines Stieres hatte, im übrigen aber einem Men¬ schen glich, einen Aufenthalt zu schaffen, wo das Unge¬ thüm den Augen der Menschen ganz entrückt würde. Der erfindsame Geist des Dädalus erbaute zu dem Ende das Labyrinth, ein Gebäude voll gewundener Krümmun¬ gen, welche Augen und Füsse des Betretenden verwirrten. Die unzähligen Gänge schlangen sich in einander, wie der verworrene Lauf des geschlängelten, phrygischen Flus¬ ses Mäander, der in zweifelndem Gange bald vorwärts, bald zurück fließt und oft seinen eigenen Wellen entgegen kommt. Als der Bau vollendet war und Dädalus ihn durchmusterte, fand sich der Erfinder selbst mit Mühe zur Schwelle zurück, ein so trügerisches Irrsal hatte er gegründet. Im Innersten dieses Labyrinthes wurde der
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drehte. Auch andere künſtliche Werkzeuge erſann er, alles ohne die Hülfe ſeines Lehrers, und erwarb ſich damit hohen Ruhm. Dädalus fing an zu befürchten, der Name des Schülers möchte größer werden, als der des Meiſters, der Neid übermannte ihn, und er brachte den Knaben hinter¬ liſtig um, indem er ihn von Minerva's Burg herabſtürzte. Während Dädalus mit ſeinem Begräbniſſe beſchäftigt war, wurde er überraſcht; er gab vor eine Schlange zu verſcharren. Dennoch wurde er vor dem Gerichte des Areopagus wegen eines Mordes angeklagt und ſchuldig befunden. Er entwich nun und irrte anfangs flüchtig in Attika umher, bis er weiter nach der Inſel Kreta floh. Hier fand er bei dem Könige Minos eine Freiſtätte, ward deſſen Freund und als berühmter Künſtler hoch angeſehen. Er wurde von ihm ausgewählt, um dem Minotaurus, einem Ungeheuer von abſcheulicher Abkunſt, der ein Dop¬ pelweſen war, das vom Kopfe bis an die Schultern die Geſtalt eines Stieres hatte, im übrigen aber einem Men¬ ſchen glich, einen Aufenthalt zu ſchaffen, wo das Unge¬ thüm den Augen der Menſchen ganz entrückt würde. Der erfindſame Geiſt des Dädalus erbaute zu dem Ende das Labyrinth, ein Gebäude voll gewundener Krümmun¬ gen, welche Augen und Füſſe des Betretenden verwirrten. Die unzähligen Gänge ſchlangen ſich in einander, wie der verworrene Lauf des geſchlängelten, phrygiſchen Fluſ¬ ſes Mäander, der in zweifelndem Gange bald vorwärts, bald zurück fließt und oft ſeinen eigenen Wellen entgegen kommt. Als der Bau vollendet war und Dädalus ihn durchmuſterte, fand ſich der Erfinder ſelbſt mit Mühe zur Schwelle zurück, ein ſo trügeriſches Irrſal hatte er gegründet. Im Innerſten dieſes Labyrinthes wurde der
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drehte. Auch andere künſtliche Werkzeuge erſann er, alles
ohne die Hülfe ſeines Lehrers, und erwarb ſich damit hohen
Ruhm. Dädalus fing an zu befürchten, der Name des
Schülers möchte größer werden, als der des Meiſters, der
Neid übermannte ihn, und er brachte den Knaben hinter¬
liſtig um, indem er ihn von Minerva's Burg herabſtürzte.
Während Dädalus mit ſeinem Begräbniſſe beſchäftigt
war, wurde er überraſcht; er gab vor eine Schlange zu
verſcharren. Dennoch wurde er vor dem Gerichte des
Areopagus wegen eines Mordes angeklagt und ſchuldig
befunden. Er entwich nun und irrte anfangs flüchtig in
Attika umher, bis er weiter nach der Inſel Kreta floh.
Hier fand er bei dem Könige Minos eine Freiſtätte, ward
deſſen Freund und als berühmter Künſtler hoch angeſehen.
Er wurde von ihm ausgewählt, um dem Minotaurus,
einem Ungeheuer von abſcheulicher Abkunſt, der ein Dop¬
pelweſen war, das vom Kopfe bis an die Schultern die
Geſtalt eines Stieres hatte, im übrigen aber einem Men¬
ſchen glich, einen Aufenthalt zu ſchaffen, wo das Unge¬
thüm den Augen der Menſchen ganz entrückt würde.
Der erfindſame Geiſt des Dädalus erbaute zu dem Ende
das Labyrinth, ein Gebäude voll gewundener Krümmun¬
gen, welche Augen und Füſſe des Betretenden verwirrten.
Die unzähligen Gänge ſchlangen ſich in einander, wie
der verworrene Lauf des geſchlängelten, phrygiſchen Fluſ¬
ſes Mäander, der in zweifelndem Gange bald vorwärts,
bald zurück fließt und oft ſeinen eigenen Wellen entgegen
kommt. Als der Bau vollendet war und Dädalus ihn
durchmuſterte, fand ſich der Erfinder ſelbſt mit Mühe
zur Schwelle zurück, ein ſo trügeriſches Irrſal hatte er
gegründet. Im Innerſten dieſes Labyrinthes wurde der
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/109>, abgerufen am 23.11.2024.
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