Minotaurus gehegt, und seine Speise waren sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen, die, vermöge alter Zinsbarkeit, alle neun Jahre von Athen dem Könige Kreta's zugesandt werden mußten.
Indessen wurde dem Dädalus die lange Verbannung aus der geliebten Heimath doch allmählig zur Last und es quälte ihn, bei einem tyrannischen und selbst gegen seinen Freund mißtrauischen Könige sein ganzes Leben auf einem vom Meere rings umschlossenen Eilande zu¬ bringen zu sollen. Sein erfindender Geist sann auf Ret¬ tung. Nachdem er lange gebrütet, rief er endlich ganz freudig aus: "die Rettung ist gefunden; mag mich Minos immerhin von Land und Wasser aussperren, die Luft bleibt mir doch offen; so viel Minos besitzt, über sie hat er keine Herrschergewalt. Durch die Luft will ich davon gehen!" Gesagt, gethan. Dädalus überwältigte mit sei¬ nem Erfindungsgeiste die Natur. Er fing an Vogelfedern von verschiedener Größe so in Ordnung zu legen, daß er mit der kleinsten begann, und zu der kürzeren Feder stets eine längere fügte, so daß man glauben konnte, sie seyen von selbst ansteigend gewachsen. Diese Federn verknüpfte er in der Mitte mit Leinfäden, unten mit Wachs. Die so vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, so daß sie ganz das Ansehen von Flügeln bekamen. Däda¬ lus hatte einen Knaben Namens Ikarus. Dieser stand neben ihm, und mischte seine kindischen Hände neugierig unter die künstliche Arbeit des Vaters: bald griff er nach dem Gefieder, dessen Flaum von dem Luftzuge bewegt wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, dessen der Künst¬ ler sich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater ließ es sorglos geschehen, und lächelte zu den unbeholfenen
Minotaurus gehegt, und ſeine Speiſe waren ſieben Jünglinge und ſieben Jungfrauen, die, vermöge alter Zinsbarkeit, alle neun Jahre von Athen dem Könige Kreta's zugeſandt werden mußten.
Indeſſen wurde dem Dädalus die lange Verbannung aus der geliebten Heimath doch allmählig zur Laſt und es quälte ihn, bei einem tyranniſchen und ſelbſt gegen ſeinen Freund mißtrauiſchen Könige ſein ganzes Leben auf einem vom Meere rings umſchloſſenen Eilande zu¬ bringen zu ſollen. Sein erfindender Geiſt ſann auf Ret¬ tung. Nachdem er lange gebrütet, rief er endlich ganz freudig aus: „die Rettung iſt gefunden; mag mich Minos immerhin von Land und Waſſer ausſperren, die Luft bleibt mir doch offen; ſo viel Minos beſitzt, über ſie hat er keine Herrſchergewalt. Durch die Luft will ich davon gehen!“ Geſagt, gethan. Dädalus überwältigte mit ſei¬ nem Erfindungsgeiſte die Natur. Er fing an Vogelfedern von verſchiedener Größe ſo in Ordnung zu legen, daß er mit der kleinſten begann, und zu der kürzeren Feder ſtets eine längere fügte, ſo daß man glauben konnte, ſie ſeyen von ſelbſt anſteigend gewachſen. Dieſe Federn verknüpfte er in der Mitte mit Leinfäden, unten mit Wachs. Die ſo vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, ſo daß ſie ganz das Anſehen von Flügeln bekamen. Däda¬ lus hatte einen Knaben Namens Ikarus. Dieſer ſtand neben ihm, und miſchte ſeine kindiſchen Hände neugierig unter die künſtliche Arbeit des Vaters: bald griff er nach dem Gefieder, deſſen Flaum von dem Luftzuge bewegt wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, deſſen der Künſt¬ ler ſich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater ließ es ſorglos geſchehen, und lächelte zu den unbeholfenen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0110"n="84"/>
Minotaurus gehegt, und ſeine Speiſe waren ſieben<lb/>
Jünglinge und ſieben Jungfrauen, die, vermöge alter<lb/>
Zinsbarkeit, alle neun Jahre von Athen dem Könige<lb/>
Kreta's zugeſandt werden mußten.</p><lb/><p>Indeſſen wurde dem Dädalus die lange Verbannung<lb/>
aus der geliebten Heimath doch allmählig zur Laſt und<lb/>
es quälte ihn, bei einem tyranniſchen und ſelbſt gegen<lb/>ſeinen Freund mißtrauiſchen Könige ſein ganzes Leben<lb/>
auf einem vom Meere rings umſchloſſenen Eilande zu¬<lb/>
bringen zu ſollen. Sein erfindender Geiſt ſann auf Ret¬<lb/>
tung. Nachdem er lange gebrütet, rief er endlich ganz<lb/>
freudig aus: „die Rettung iſt gefunden; mag mich Minos<lb/>
immerhin von Land und Waſſer ausſperren, die Luft<lb/>
bleibt mir doch offen; ſo viel Minos beſitzt, über ſie hat<lb/>
er keine Herrſchergewalt. Durch die Luft will ich davon<lb/>
gehen!“ Geſagt, gethan. Dädalus überwältigte mit ſei¬<lb/>
nem Erfindungsgeiſte die Natur. Er fing an Vogelfedern<lb/>
von verſchiedener Größe ſo in Ordnung zu legen, daß er<lb/>
mit der kleinſten begann, und zu der kürzeren Feder ſtets<lb/>
eine längere fügte, ſo daß man glauben konnte, ſie ſeyen<lb/>
von ſelbſt anſteigend gewachſen. Dieſe Federn verknüpfte<lb/>
er in der Mitte mit Leinfäden, unten mit Wachs. Die ſo<lb/>
vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, ſo<lb/>
daß ſie ganz das Anſehen von Flügeln bekamen. Däda¬<lb/>
lus hatte einen Knaben Namens Ikarus. Dieſer ſtand<lb/>
neben ihm, und miſchte ſeine kindiſchen Hände neugierig<lb/>
unter die künſtliche Arbeit des Vaters: bald griff er nach<lb/>
dem Gefieder, deſſen Flaum von dem Luftzuge bewegt<lb/>
wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, deſſen der Künſt¬<lb/>
ler ſich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater<lb/>
ließ es ſorglos geſchehen, und lächelte zu den unbeholfenen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[84/0110]
Minotaurus gehegt, und ſeine Speiſe waren ſieben
Jünglinge und ſieben Jungfrauen, die, vermöge alter
Zinsbarkeit, alle neun Jahre von Athen dem Könige
Kreta's zugeſandt werden mußten.
Indeſſen wurde dem Dädalus die lange Verbannung
aus der geliebten Heimath doch allmählig zur Laſt und
es quälte ihn, bei einem tyranniſchen und ſelbſt gegen
ſeinen Freund mißtrauiſchen Könige ſein ganzes Leben
auf einem vom Meere rings umſchloſſenen Eilande zu¬
bringen zu ſollen. Sein erfindender Geiſt ſann auf Ret¬
tung. Nachdem er lange gebrütet, rief er endlich ganz
freudig aus: „die Rettung iſt gefunden; mag mich Minos
immerhin von Land und Waſſer ausſperren, die Luft
bleibt mir doch offen; ſo viel Minos beſitzt, über ſie hat
er keine Herrſchergewalt. Durch die Luft will ich davon
gehen!“ Geſagt, gethan. Dädalus überwältigte mit ſei¬
nem Erfindungsgeiſte die Natur. Er fing an Vogelfedern
von verſchiedener Größe ſo in Ordnung zu legen, daß er
mit der kleinſten begann, und zu der kürzeren Feder ſtets
eine längere fügte, ſo daß man glauben konnte, ſie ſeyen
von ſelbſt anſteigend gewachſen. Dieſe Federn verknüpfte
er in der Mitte mit Leinfäden, unten mit Wachs. Die ſo
vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, ſo
daß ſie ganz das Anſehen von Flügeln bekamen. Däda¬
lus hatte einen Knaben Namens Ikarus. Dieſer ſtand
neben ihm, und miſchte ſeine kindiſchen Hände neugierig
unter die künſtliche Arbeit des Vaters: bald griff er nach
dem Gefieder, deſſen Flaum von dem Luftzuge bewegt
wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, deſſen der Künſt¬
ler ſich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater
ließ es ſorglos geſchehen, und lächelte zu den unbeholfenen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/110>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.