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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Bemühungen seines Kindes. Nachdem er die letzte Hand
an seine Arbeit gelegt hatte, paßte sich Dädalus selbst die
Flügel an den Leib, setzte sich mit ihnen ins Gleichgewicht
und schwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte.
Dann, nachdem er sich wieder zu Boden gesenkt, belehrte
er auch seinen jungen Sohn Ikarus, für den ein kleineres
Flügelpaar gefertigt und bereit lag. "Flieg immer, lie¬
ber Sohn, sprach er, auf der Mittelstraße; damit nicht,
wenn du den Flug zusehr nach unten senktest, die Fittige
ans Meerwasser streifen und von Feuchtigkeit beschwert
dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder, wenn du
dich zu hoch in die Luftregion verstiegest, dein Gefieder
den Sonnenstrahlen zu nahe komme und plötzlich Feuer
fange. Zwischen Wasser und Sonne fliege dahin, im¬
mer nur meinem Pfade durch die Luft folgend." Un¬
ter solchen Ermahnungen knüpfte Dädalus auch dem
Sohne das Flügelpaar an die Schultern, doch zitterte
die Hand des Greisen, während er es that, und eine
bange Thräne tropfte ihm auf die Hand. Dann um¬
armte er den Knaben und gab ihm einen Kuß, der auch
sein letzter seyn sollte.

Jetzt erhoben sich Beide mit ihren Flügeln. Der
Vater flog voraus, sorgenvoll wie ein Vogel, der seine
zarte Brut zum erstenmal aus dem Neste in die Luft
führt. Doch schwang er besonnen und kunstvoll das Gefie¬
der, damit der Sohn es ihm nachthun lernte, und blickte von
Zeit zu Zeit rückwärts, um zu sehen, wie es diesem gelänge.
Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Insel
Samos zur linken, bald Delos und Paros, die Eilande, vor¬
übergeflogen. Noch mehrere Küsten sahen sie schwinden, als
der Knabe Ikarus, durch den glücklichen Flug zuversichtlich

Bemühungen ſeines Kindes. Nachdem er die letzte Hand
an ſeine Arbeit gelegt hatte, paßte ſich Dädalus ſelbſt die
Flügel an den Leib, ſetzte ſich mit ihnen ins Gleichgewicht
und ſchwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte.
Dann, nachdem er ſich wieder zu Boden geſenkt, belehrte
er auch ſeinen jungen Sohn Ikarus, für den ein kleineres
Flügelpaar gefertigt und bereit lag. „Flieg immer, lie¬
ber Sohn, ſprach er, auf der Mittelſtraße; damit nicht,
wenn du den Flug zuſehr nach unten ſenkteſt, die Fittige
ans Meerwaſſer ſtreifen und von Feuchtigkeit beſchwert
dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder, wenn du
dich zu hoch in die Luftregion verſtiegeſt, dein Gefieder
den Sonnenſtrahlen zu nahe komme und plötzlich Feuer
fange. Zwiſchen Waſſer und Sonne fliege dahin, im¬
mer nur meinem Pfade durch die Luft folgend.“ Un¬
ter ſolchen Ermahnungen knüpfte Dädalus auch dem
Sohne das Flügelpaar an die Schultern, doch zitterte
die Hand des Greiſen, während er es that, und eine
bange Thräne tropfte ihm auf die Hand. Dann um¬
armte er den Knaben und gab ihm einen Kuß, der auch
ſein letzter ſeyn ſollte.

Jetzt erhoben ſich Beide mit ihren Flügeln. Der
Vater flog voraus, ſorgenvoll wie ein Vogel, der ſeine
zarte Brut zum erſtenmal aus dem Neſte in die Luft
führt. Doch ſchwang er beſonnen und kunſtvoll das Gefie¬
der, damit der Sohn es ihm nachthun lernte, und blickte von
Zeit zu Zeit rückwärts, um zu ſehen, wie es dieſem gelänge.
Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Inſel
Samos zur linken, bald Delos und Paros, die Eilande, vor¬
übergeflogen. Noch mehrere Küſten ſahen ſie ſchwinden, als
der Knabe Ikarus, durch den glücklichen Flug zuverſichtlich

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[85/0111] Bemühungen ſeines Kindes. Nachdem er die letzte Hand an ſeine Arbeit gelegt hatte, paßte ſich Dädalus ſelbſt die Flügel an den Leib, ſetzte ſich mit ihnen ins Gleichgewicht und ſchwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte. Dann, nachdem er ſich wieder zu Boden geſenkt, belehrte er auch ſeinen jungen Sohn Ikarus, für den ein kleineres Flügelpaar gefertigt und bereit lag. „Flieg immer, lie¬ ber Sohn, ſprach er, auf der Mittelſtraße; damit nicht, wenn du den Flug zuſehr nach unten ſenkteſt, die Fittige ans Meerwaſſer ſtreifen und von Feuchtigkeit beſchwert dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder, wenn du dich zu hoch in die Luftregion verſtiegeſt, dein Gefieder den Sonnenſtrahlen zu nahe komme und plötzlich Feuer fange. Zwiſchen Waſſer und Sonne fliege dahin, im¬ mer nur meinem Pfade durch die Luft folgend.“ Un¬ ter ſolchen Ermahnungen knüpfte Dädalus auch dem Sohne das Flügelpaar an die Schultern, doch zitterte die Hand des Greiſen, während er es that, und eine bange Thräne tropfte ihm auf die Hand. Dann um¬ armte er den Knaben und gab ihm einen Kuß, der auch ſein letzter ſeyn ſollte. Jetzt erhoben ſich Beide mit ihren Flügeln. Der Vater flog voraus, ſorgenvoll wie ein Vogel, der ſeine zarte Brut zum erſtenmal aus dem Neſte in die Luft führt. Doch ſchwang er beſonnen und kunſtvoll das Gefie¬ der, damit der Sohn es ihm nachthun lernte, und blickte von Zeit zu Zeit rückwärts, um zu ſehen, wie es dieſem gelänge. Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Inſel Samos zur linken, bald Delos und Paros, die Eilande, vor¬ übergeflogen. Noch mehrere Küſten ſahen ſie ſchwinden, als der Knabe Ikarus, durch den glücklichen Flug zuverſichtlich

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/111>, abgerufen am 23.11.2024.