Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Herold auf das Schiff, um den Argonauten den
günstigen Beschluß der Frauenversammlung kund zu thun.
Die Helden waren über die Nachricht hoch erfreut, sie
glaubten nicht anders, als Hypsipyle sey ihrem Vater,
nach dessen Tode, in friedlicher Uebernahme der Herr¬
schaft gefolgt. Jason warf den purpurnen Mantel, ein
Geschenk der Minerva, über seine Schultern und wan¬
delte der Stadt zu, einem schimmernden Sterne ähnlich.
Als er in die Thore einzog, strömten ihm die Frauen
mit lautem Gruße nach und erfreuten sich des Gastes.
Er aber heftete mit sittsamer Scheu die Augen auf den
Boden und eilte dem Pallaste der Königin zu. Dienende
Mägde thaten die hohen Pforten weit vor ihm auf; die
Jungfrau führte ihn in das Gemach ihrer Herrin. Hier
nahm er, dieser gegenüber, auf einem prachtvollen Stuhl
Platz. Hypsipyle schlug die Augen nieder und ihre jung¬
fräulichen Wangen rötheten sich. Verschämt wandte sie
sich an ihn mit den schmeichlerischen Worten: "Fremdling,
warum weilet ihr so scheu außerhalb unserer Thore? diese
Stadt wird ja nicht von Männern bewohnt, daß ihr euch
zu fürchten hättet. Unsre Gatten sind uns treulos ge¬
worden; sie sind mit Thracischen Weibern, die sie im
Kriege erbeutet, in das Land ihrer Nebenweiber gezogen
und haben ihre Söhne und männlichen Diener mit sich
genommen; wir aber sind hülflos zurückgeblieben. Da¬
rum, wenn es euch gefällt, kehret hier, bei unsrem Volke,
ein, und magst du, so sollst du an meines Vaters Thoas
Statt, die deinigen und uns beherrschen. Du wirst das
Land nicht tadeln, es ist bei weitem die fruchtbarste Insel
in diesem Meere. Geh daher, guter Führer, melde dei¬
nen Genossen unsern Vorschlag und bleibet nicht länger

dem Herold auf das Schiff, um den Argonauten den
günſtigen Beſchluß der Frauenverſammlung kund zu thun.
Die Helden waren über die Nachricht hoch erfreut, ſie
glaubten nicht anders, als Hypſipyle ſey ihrem Vater,
nach deſſen Tode, in friedlicher Uebernahme der Herr¬
ſchaft gefolgt. Jaſon warf den purpurnen Mantel, ein
Geſchenk der Minerva, über ſeine Schultern und wan¬
delte der Stadt zu, einem ſchimmernden Sterne ähnlich.
Als er in die Thore einzog, ſtrömten ihm die Frauen
mit lautem Gruße nach und erfreuten ſich des Gaſtes.
Er aber heftete mit ſittſamer Scheu die Augen auf den
Boden und eilte dem Pallaſte der Königin zu. Dienende
Mägde thaten die hohen Pforten weit vor ihm auf; die
Jungfrau führte ihn in das Gemach ihrer Herrin. Hier
nahm er, dieſer gegenüber, auf einem prachtvollen Stuhl
Platz. Hypſipyle ſchlug die Augen nieder und ihre jung¬
fräulichen Wangen rötheten ſich. Verſchämt wandte ſie
ſich an ihn mit den ſchmeichleriſchen Worten: „Fremdling,
warum weilet ihr ſo ſcheu außerhalb unſerer Thore? dieſe
Stadt wird ja nicht von Männern bewohnt, daß ihr euch
zu fürchten hättet. Unſre Gatten ſind uns treulos ge¬
worden; ſie ſind mit Thraciſchen Weibern, die ſie im
Kriege erbeutet, in das Land ihrer Nebenweiber gezogen
und haben ihre Söhne und männlichen Diener mit ſich
genommen; wir aber ſind hülflos zurückgeblieben. Da¬
rum, wenn es euch gefällt, kehret hier, bei unſrem Volke,
ein, und magſt du, ſo ſollſt du an meines Vaters Thoas
Statt, die deinigen und uns beherrſchen. Du wirſt das
Land nicht tadeln, es iſt bei weitem die fruchtbarſte Inſel
in dieſem Meere. Geh daher, guter Führer, melde dei¬
nen Genoſſen unſern Vorſchlag und bleibet nicht länger

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0124" n="98"/>
dem Herold auf das Schiff, um den Argonauten den<lb/>
gün&#x017F;tigen Be&#x017F;chluß der Frauenver&#x017F;ammlung kund zu thun.<lb/>
Die Helden waren über die Nachricht hoch erfreut, &#x017F;ie<lb/>
glaubten nicht anders, als Hyp&#x017F;ipyle &#x017F;ey ihrem Vater,<lb/>
nach de&#x017F;&#x017F;en Tode, in friedlicher Uebernahme der Herr¬<lb/>
&#x017F;chaft gefolgt. Ja&#x017F;on warf den purpurnen Mantel, ein<lb/>
Ge&#x017F;chenk der Minerva, über &#x017F;eine Schultern und wan¬<lb/>
delte der Stadt zu, einem &#x017F;chimmernden Sterne ähnlich.<lb/>
Als er in die Thore einzog, &#x017F;trömten ihm die Frauen<lb/>
mit lautem Gruße nach und erfreuten &#x017F;ich des Ga&#x017F;tes.<lb/>
Er aber heftete mit &#x017F;itt&#x017F;amer Scheu die Augen auf den<lb/>
Boden und eilte dem Palla&#x017F;te der Königin zu. Dienende<lb/>
Mägde thaten die hohen Pforten weit vor ihm auf; die<lb/>
Jungfrau führte ihn in das Gemach ihrer Herrin. Hier<lb/>
nahm er, die&#x017F;er gegenüber, auf einem prachtvollen Stuhl<lb/>
Platz. Hyp&#x017F;ipyle &#x017F;chlug die Augen nieder und ihre jung¬<lb/>
fräulichen Wangen rötheten &#x017F;ich. Ver&#x017F;chämt wandte &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich an ihn mit den &#x017F;chmeichleri&#x017F;chen Worten: &#x201E;Fremdling,<lb/>
warum weilet ihr &#x017F;o &#x017F;cheu außerhalb un&#x017F;erer Thore? die&#x017F;e<lb/>
Stadt wird ja nicht von Männern bewohnt, daß ihr euch<lb/>
zu fürchten hättet. Un&#x017F;re Gatten &#x017F;ind uns treulos ge¬<lb/>
worden; &#x017F;ie &#x017F;ind mit Thraci&#x017F;chen Weibern, die &#x017F;ie im<lb/>
Kriege erbeutet, in das Land ihrer Nebenweiber gezogen<lb/>
und haben ihre Söhne und männlichen Diener mit &#x017F;ich<lb/>
genommen; wir aber &#x017F;ind hülflos zurückgeblieben. Da¬<lb/>
rum, wenn es euch gefällt, kehret hier, bei un&#x017F;rem Volke,<lb/>
ein, und mag&#x017F;t du, &#x017F;o &#x017F;oll&#x017F;t du an meines Vaters Thoas<lb/>
Statt, die deinigen und uns beherr&#x017F;chen. Du wir&#x017F;t das<lb/>
Land nicht tadeln, es i&#x017F;t bei weitem die fruchtbar&#x017F;te In&#x017F;el<lb/>
in die&#x017F;em Meere. Geh daher, guter Führer, melde dei¬<lb/>
nen Geno&#x017F;&#x017F;en un&#x017F;ern Vor&#x017F;chlag und bleibet nicht länger<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0124] dem Herold auf das Schiff, um den Argonauten den günſtigen Beſchluß der Frauenverſammlung kund zu thun. Die Helden waren über die Nachricht hoch erfreut, ſie glaubten nicht anders, als Hypſipyle ſey ihrem Vater, nach deſſen Tode, in friedlicher Uebernahme der Herr¬ ſchaft gefolgt. Jaſon warf den purpurnen Mantel, ein Geſchenk der Minerva, über ſeine Schultern und wan¬ delte der Stadt zu, einem ſchimmernden Sterne ähnlich. Als er in die Thore einzog, ſtrömten ihm die Frauen mit lautem Gruße nach und erfreuten ſich des Gaſtes. Er aber heftete mit ſittſamer Scheu die Augen auf den Boden und eilte dem Pallaſte der Königin zu. Dienende Mägde thaten die hohen Pforten weit vor ihm auf; die Jungfrau führte ihn in das Gemach ihrer Herrin. Hier nahm er, dieſer gegenüber, auf einem prachtvollen Stuhl Platz. Hypſipyle ſchlug die Augen nieder und ihre jung¬ fräulichen Wangen rötheten ſich. Verſchämt wandte ſie ſich an ihn mit den ſchmeichleriſchen Worten: „Fremdling, warum weilet ihr ſo ſcheu außerhalb unſerer Thore? dieſe Stadt wird ja nicht von Männern bewohnt, daß ihr euch zu fürchten hättet. Unſre Gatten ſind uns treulos ge¬ worden; ſie ſind mit Thraciſchen Weibern, die ſie im Kriege erbeutet, in das Land ihrer Nebenweiber gezogen und haben ihre Söhne und männlichen Diener mit ſich genommen; wir aber ſind hülflos zurückgeblieben. Da¬ rum, wenn es euch gefällt, kehret hier, bei unſrem Volke, ein, und magſt du, ſo ſollſt du an meines Vaters Thoas Statt, die deinigen und uns beherrſchen. Du wirſt das Land nicht tadeln, es iſt bei weitem die fruchtbarſte Inſel in dieſem Meere. Geh daher, guter Führer, melde dei¬ nen Genoſſen unſern Vorſchlag und bleibet nicht länger

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/124
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/124>, abgerufen am 23.11.2024.