hohen Alter mit Blindheit geschlagen worden; und die Harpyien, die gräßlichen Wundervögel, ließen ihn keine Speise ruhig genießen. Was sie konnten, raubten sie; das Zurückgebliebene besudelten sie so, daß man es nicht genießen, ja selbst die Nähe solcher Speisen nicht aus¬ halten konnte. Doch war dem Phineus ein Trostspruch vom Orakel Jupiters gegeben: "Wenn die Boreassöhne mit den griechischen Schiffern kommen würden, sollte er wieder Speise genießen können." So verließ denn der Greis, auf die erste Nachricht von des Schiffes Ankunft, sein Gemach. Bis auf die Knochen abgemagert war er anzuschauen wie ein Schatten, seine Glieder zitterten vor Altersschwäche, vor den Augen schwindelte ihm, ein Stab unterstützte seine schwankenden Tritte und als er bei den Argonauten angekommen war, sank er erschöpft zu Bo¬ den. Diese umringten den unglücklichen Greis und ent¬ setzten sich über sein Aussehen. Als der Fürst ihre Nähe vernommen, und seine Besinnung wieder zurückgekehrt war, brach er in flehende Bitten aus: "O, ihr theuren Helden, wenn ihr wirklich Diejenigen seyd, welche die Weissagung mir bezeichnet hat, so helfet mir: denn nicht nur meines Augenlichtes haben die Rachegöttinnen sich bemächtigt, auch die Speisen entziehen sie meinem Alter durch die gräßlichen Vögel, die sie mir senden! Ihr lei¬ stet eure Hülfe keinem Fremdling; ich bin Phineus, Age¬ nors Sohn, ein Grieche. Einst habe ich unter den Thra¬ ciern geherrscht, und die Söhne des Boreas, welche Theilnehmer eures Zuges seyn müssen und mich retten sollen, sind die jungen Brüder Cleopatra's, die dort meine Gattin war." Auf diese Entdeckung warf sich ihm Ze¬ thes, des Boreas Sohn, in die Arme und versprach ihm,
hohen Alter mit Blindheit geſchlagen worden; und die Harpyien, die gräßlichen Wundervögel, ließen ihn keine Speiſe ruhig genießen. Was ſie konnten, raubten ſie; das Zurückgebliebene beſudelten ſie ſo, daß man es nicht genießen, ja ſelbſt die Nähe ſolcher Speiſen nicht aus¬ halten konnte. Doch war dem Phineus ein Troſtſpruch vom Orakel Jupiters gegeben: „Wenn die Boreasſöhne mit den griechiſchen Schiffern kommen würden, ſollte er wieder Speiſe genießen können.“ So verließ denn der Greis, auf die erſte Nachricht von des Schiffes Ankunft, ſein Gemach. Bis auf die Knochen abgemagert war er anzuſchauen wie ein Schatten, ſeine Glieder zitterten vor Altersſchwäche, vor den Augen ſchwindelte ihm, ein Stab unterſtützte ſeine ſchwankenden Tritte und als er bei den Argonauten angekommen war, ſank er erſchöpft zu Bo¬ den. Dieſe umringten den unglücklichen Greis und ent¬ ſetzten ſich über ſein Ausſehen. Als der Fürſt ihre Nähe vernommen, und ſeine Beſinnung wieder zurückgekehrt war, brach er in flehende Bitten aus: „O, ihr theuren Helden, wenn ihr wirklich Diejenigen ſeyd, welche die Weiſſagung mir bezeichnet hat, ſo helfet mir: denn nicht nur meines Augenlichtes haben die Rachegöttinnen ſich bemächtigt, auch die Speiſen entziehen ſie meinem Alter durch die gräßlichen Vögel, die ſie mir ſenden! Ihr lei¬ ſtet eure Hülfe keinem Fremdling; ich bin Phineus, Age¬ nors Sohn, ein Grieche. Einſt habe ich unter den Thra¬ ciern geherrſcht, und die Söhne des Boreas, welche Theilnehmer eures Zuges ſeyn müſſen und mich retten ſollen, ſind die jungen Brüder Cleopatra's, die dort meine Gattin war.“ Auf dieſe Entdeckung warf ſich ihm Ze¬ thes, des Boreas Sohn, in die Arme und verſprach ihm,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0135"n="109"/>
hohen Alter mit Blindheit geſchlagen worden; und die<lb/>
Harpyien, die gräßlichen Wundervögel, ließen ihn keine<lb/>
Speiſe ruhig genießen. Was ſie konnten, raubten ſie;<lb/>
das Zurückgebliebene beſudelten ſie ſo, daß man es nicht<lb/>
genießen, ja ſelbſt die Nähe ſolcher Speiſen nicht aus¬<lb/>
halten konnte. Doch war dem Phineus ein Troſtſpruch<lb/>
vom Orakel Jupiters gegeben: „Wenn die Boreasſöhne<lb/>
mit den griechiſchen Schiffern kommen würden, ſollte er<lb/>
wieder Speiſe genießen können.“ So verließ denn der<lb/>
Greis, auf die erſte Nachricht von des Schiffes Ankunft,<lb/>ſein Gemach. Bis auf die Knochen abgemagert war er<lb/>
anzuſchauen wie ein Schatten, ſeine Glieder zitterten vor<lb/>
Altersſchwäche, vor den Augen ſchwindelte ihm, ein Stab<lb/>
unterſtützte ſeine ſchwankenden Tritte und als er bei den<lb/>
Argonauten angekommen war, ſank er erſchöpft zu Bo¬<lb/>
den. Dieſe umringten den unglücklichen Greis und ent¬<lb/>ſetzten ſich über ſein Ausſehen. Als der Fürſt ihre Nähe<lb/>
vernommen, und ſeine Beſinnung wieder zurückgekehrt<lb/>
war, brach er in flehende Bitten aus: „O, ihr theuren<lb/>
Helden, wenn ihr wirklich Diejenigen ſeyd, welche die<lb/>
Weiſſagung mir bezeichnet hat, ſo helfet mir: denn nicht<lb/>
nur meines Augenlichtes haben die Rachegöttinnen ſich<lb/>
bemächtigt, auch die Speiſen entziehen ſie meinem Alter<lb/>
durch die gräßlichen Vögel, die ſie mir ſenden! Ihr lei¬<lb/>ſtet eure Hülfe keinem Fremdling; ich bin Phineus, Age¬<lb/>
nors Sohn, ein Grieche. Einſt habe ich unter den Thra¬<lb/>
ciern geherrſcht, und die Söhne des Boreas, welche<lb/>
Theilnehmer eures Zuges ſeyn müſſen und mich retten<lb/>ſollen, ſind die jungen Brüder Cleopatra's, die dort meine<lb/>
Gattin war.“ Auf dieſe Entdeckung warf ſich ihm Ze¬<lb/>
thes, des Boreas Sohn, in die Arme und verſprach ihm,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[109/0135]
hohen Alter mit Blindheit geſchlagen worden; und die
Harpyien, die gräßlichen Wundervögel, ließen ihn keine
Speiſe ruhig genießen. Was ſie konnten, raubten ſie;
das Zurückgebliebene beſudelten ſie ſo, daß man es nicht
genießen, ja ſelbſt die Nähe ſolcher Speiſen nicht aus¬
halten konnte. Doch war dem Phineus ein Troſtſpruch
vom Orakel Jupiters gegeben: „Wenn die Boreasſöhne
mit den griechiſchen Schiffern kommen würden, ſollte er
wieder Speiſe genießen können.“ So verließ denn der
Greis, auf die erſte Nachricht von des Schiffes Ankunft,
ſein Gemach. Bis auf die Knochen abgemagert war er
anzuſchauen wie ein Schatten, ſeine Glieder zitterten vor
Altersſchwäche, vor den Augen ſchwindelte ihm, ein Stab
unterſtützte ſeine ſchwankenden Tritte und als er bei den
Argonauten angekommen war, ſank er erſchöpft zu Bo¬
den. Dieſe umringten den unglücklichen Greis und ent¬
ſetzten ſich über ſein Ausſehen. Als der Fürſt ihre Nähe
vernommen, und ſeine Beſinnung wieder zurückgekehrt
war, brach er in flehende Bitten aus: „O, ihr theuren
Helden, wenn ihr wirklich Diejenigen ſeyd, welche die
Weiſſagung mir bezeichnet hat, ſo helfet mir: denn nicht
nur meines Augenlichtes haben die Rachegöttinnen ſich
bemächtigt, auch die Speiſen entziehen ſie meinem Alter
durch die gräßlichen Vögel, die ſie mir ſenden! Ihr lei¬
ſtet eure Hülfe keinem Fremdling; ich bin Phineus, Age¬
nors Sohn, ein Grieche. Einſt habe ich unter den Thra¬
ciern geherrſcht, und die Söhne des Boreas, welche
Theilnehmer eures Zuges ſeyn müſſen und mich retten
ſollen, ſind die jungen Brüder Cleopatra's, die dort meine
Gattin war.“ Auf dieſe Entdeckung warf ſich ihm Ze¬
thes, des Boreas Sohn, in die Arme und verſprach ihm,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/135>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.