del, und sie brach in die Worte aus: "Chalciope, das Morgenroth soll meinen Blicken nicht mehr leuchten, wenn dein und deiner Söhne Leben nicht mein erstes ist. Hast du doch mich, wie mir oft die Mutter erzählte, zugleich mit ihnen gesäugt, als ich ein kleines Kind war; so liebe ich dich nicht nur wie eine Schwester, sondern auch wie eine Tochter. Morgen in aller Frühe will ich zum Tempel der Hekate gehen und dort dem Fremdlinge die Zaubermittel holen, welche die Stiere besänftigen sollen." Chalciope verließ das Gemach der Schwester und mel¬ dete den Söhnen die erwünschte Botschaft.
Die ganze Nacht lag Medea in schwerem Streite mit sich selbst. "Habe ich nicht zu viel versprochen," sagte sie in ihrem Innern, "darf ich so viel für den Fremdling thun? Ihn ohne Zeugen schauen, ihn anrühren, was doch geschehen muß, wenn der Trug gelingen soll? Ja, ich will ihn retten; er gehe frei hin, wohin er will: aber an dem Tage, wo er den Streit glücklich vollbracht ha¬ ben wird, will ich sterben. Ein Strick oder Gift soll mich vom verhaßten Leben befreien. -- Aber wird mich dieses retten, wird mich nicht üble Nachrede durchs ganze Kolchierland verfolgen und sagen, daß ich mein Haus beschimpft habe, daß ich einem fremden Manne zu lieb gestorben sey?" Unter solchen Gedanken ging sie, ein Kästchen zu holen, in welchem heil- und todbringende Arzeneien sich befanden. Sie stellte es auf ihre Kniee und hatte es schon geöffnet, um von den tödtlichen Gif¬ ten zu kosten; da schwebten ihr alle holden Lebenssorgen vor, alle Lebensfreuden, alle Gespielinnen; die Sonne kam ihr schöner vor, als vorher, eine unwiderstehliche Furcht vor dem Tode ergriff sie; sie stellte das Kästchen
9 *
del, und ſie brach in die Worte aus: „Chalciope, das Morgenroth ſoll meinen Blicken nicht mehr leuchten, wenn dein und deiner Söhne Leben nicht mein erſtes iſt. Haſt du doch mich, wie mir oft die Mutter erzählte, zugleich mit ihnen geſäugt, als ich ein kleines Kind war; ſo liebe ich dich nicht nur wie eine Schweſter, ſondern auch wie eine Tochter. Morgen in aller Frühe will ich zum Tempel der Hekate gehen und dort dem Fremdlinge die Zaubermittel holen, welche die Stiere beſänftigen ſollen.“ Chalciope verließ das Gemach der Schweſter und mel¬ dete den Söhnen die erwünſchte Botſchaft.
Die ganze Nacht lag Medea in ſchwerem Streite mit ſich ſelbſt. „Habe ich nicht zu viel verſprochen,“ ſagte ſie in ihrem Innern, „darf ich ſo viel für den Fremdling thun? Ihn ohne Zeugen ſchauen, ihn anrühren, was doch geſchehen muß, wenn der Trug gelingen ſoll? Ja, ich will ihn retten; er gehe frei hin, wohin er will: aber an dem Tage, wo er den Streit glücklich vollbracht ha¬ ben wird, will ich ſterben. Ein Strick oder Gift ſoll mich vom verhaßten Leben befreien. — Aber wird mich dieſes retten, wird mich nicht üble Nachrede durchs ganze Kolchierland verfolgen und ſagen, daß ich mein Haus beſchimpft habe, daß ich einem fremden Manne zu lieb geſtorben ſey?“ Unter ſolchen Gedanken ging ſie, ein Käſtchen zu holen, in welchem heil- und todbringende Arzeneien ſich befanden. Sie ſtellte es auf ihre Kniee und hatte es ſchon geöffnet, um von den tödtlichen Gif¬ ten zu koſten; da ſchwebten ihr alle holden Lebensſorgen vor, alle Lebensfreuden, alle Geſpielinnen; die Sonne kam ihr ſchöner vor, als vorher, eine unwiderſtehliche Furcht vor dem Tode ergriff ſie; ſie ſtellte das Käſtchen
9 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0157"n="131"/>
del, und ſie brach in die Worte aus: „Chalciope, das<lb/>
Morgenroth ſoll meinen Blicken nicht mehr leuchten, wenn<lb/>
dein und deiner Söhne Leben nicht mein erſtes iſt. Haſt<lb/>
du doch mich, wie mir oft die Mutter erzählte, zugleich<lb/>
mit ihnen geſäugt, als ich ein kleines Kind war; ſo<lb/>
liebe ich dich nicht nur wie eine Schweſter, ſondern auch<lb/>
wie eine Tochter. Morgen in aller Frühe will ich zum<lb/>
Tempel der Hekate gehen und dort dem Fremdlinge die<lb/>
Zaubermittel holen, welche die Stiere beſänftigen ſollen.“<lb/>
Chalciope verließ das Gemach der Schweſter und mel¬<lb/>
dete den Söhnen die erwünſchte Botſchaft.</p><lb/><p>Die ganze Nacht lag Medea in ſchwerem Streite<lb/>
mit ſich ſelbſt. „Habe ich nicht zu viel verſprochen,“ſagte<lb/>ſie in ihrem Innern, „darf ich ſo viel für den Fremdling<lb/>
thun? Ihn ohne Zeugen ſchauen, ihn anrühren, was doch<lb/>
geſchehen muß, wenn der Trug gelingen ſoll? Ja, ich<lb/>
will ihn retten; er gehe frei hin, wohin er will: aber<lb/>
an dem Tage, wo er den Streit glücklich vollbracht ha¬<lb/>
ben wird, will ich ſterben. Ein Strick oder Gift ſoll<lb/>
mich vom verhaßten Leben befreien. — Aber wird mich<lb/>
dieſes retten, wird mich nicht üble Nachrede durchs ganze<lb/>
Kolchierland verfolgen und ſagen, daß ich mein Haus<lb/>
beſchimpft habe, daß ich einem fremden Manne zu lieb<lb/>
geſtorben ſey?“ Unter ſolchen Gedanken ging ſie, ein<lb/>
Käſtchen zu holen, in welchem heil- und todbringende<lb/>
Arzeneien ſich befanden. Sie ſtellte es auf ihre Kniee<lb/>
und hatte es ſchon geöffnet, um von den tödtlichen Gif¬<lb/>
ten zu koſten; da ſchwebten ihr alle holden Lebensſorgen<lb/>
vor, alle Lebensfreuden, alle Geſpielinnen; die Sonne<lb/>
kam ihr ſchöner vor, als vorher, eine unwiderſtehliche<lb/>
Furcht vor dem Tode ergriff ſie; ſie ſtellte das Käſtchen<lb/><fwtype="sig"place="bottom">9 *<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[131/0157]
del, und ſie brach in die Worte aus: „Chalciope, das
Morgenroth ſoll meinen Blicken nicht mehr leuchten, wenn
dein und deiner Söhne Leben nicht mein erſtes iſt. Haſt
du doch mich, wie mir oft die Mutter erzählte, zugleich
mit ihnen geſäugt, als ich ein kleines Kind war; ſo
liebe ich dich nicht nur wie eine Schweſter, ſondern auch
wie eine Tochter. Morgen in aller Frühe will ich zum
Tempel der Hekate gehen und dort dem Fremdlinge die
Zaubermittel holen, welche die Stiere beſänftigen ſollen.“
Chalciope verließ das Gemach der Schweſter und mel¬
dete den Söhnen die erwünſchte Botſchaft.
Die ganze Nacht lag Medea in ſchwerem Streite
mit ſich ſelbſt. „Habe ich nicht zu viel verſprochen,“ ſagte
ſie in ihrem Innern, „darf ich ſo viel für den Fremdling
thun? Ihn ohne Zeugen ſchauen, ihn anrühren, was doch
geſchehen muß, wenn der Trug gelingen ſoll? Ja, ich
will ihn retten; er gehe frei hin, wohin er will: aber
an dem Tage, wo er den Streit glücklich vollbracht ha¬
ben wird, will ich ſterben. Ein Strick oder Gift ſoll
mich vom verhaßten Leben befreien. — Aber wird mich
dieſes retten, wird mich nicht üble Nachrede durchs ganze
Kolchierland verfolgen und ſagen, daß ich mein Haus
beſchimpft habe, daß ich einem fremden Manne zu lieb
geſtorben ſey?“ Unter ſolchen Gedanken ging ſie, ein
Käſtchen zu holen, in welchem heil- und todbringende
Arzeneien ſich befanden. Sie ſtellte es auf ihre Kniee
und hatte es ſchon geöffnet, um von den tödtlichen Gif¬
ten zu koſten; da ſchwebten ihr alle holden Lebensſorgen
vor, alle Lebensfreuden, alle Geſpielinnen; die Sonne
kam ihr ſchöner vor, als vorher, eine unwiderſtehliche
Furcht vor dem Tode ergriff ſie; ſie ſtellte das Käſtchen
9 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/157>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.