sie ihn unterwegs betrachteten, mußten über seine Herr¬ lichkeit staunen. Medea war unterdessen mit ihren Mäg¬ den im Tempel, und obwohl sie sich die Zeit mit Sin¬ gen verkürzten, so war doch ihr Geist in ganz andern Gedanken, und kein Lied wollte ihr lange gefallen; ihre Augen weilten nicht im Kreise ihrer Dienerinnen, son¬ dern schweiften durch die Tempelpforte verlangend über die Straße hinaus. Bei jedem Fußtritt oder Windhauch richtete sich ihr Haupt begierig in die Höhe. Nicht lan¬ ge, so trat Jason mit seinen Begleitern in den Tempel, hoch einherschreitend und schön wie Sirius dem Ocean entsteigt. Da war's der Jungfrau, als fiele ihr das Herz aus der Brust, Nacht war vor ihren Augen und mit heißem Roth bedeckte sich ihre Wange. Inzwischen hatten sie die Dienerinnen alle verlassen. Lange standen der Held und die Königstochter einander stillschweigend gegenüber, schlanken Eichen oder Tannen ähnlich, die auf den Bergen tiefgewurzelt in Windstille regungslos bei einander stehen. Plötzlich aber kommt ein Sturm und alle Blätter zittern in rauschender Bewegung; so sollten, vom Hauch der Liebe angeweht, sie bald vielbe¬ wegte Worte tauschen. "Warum scheuest du mich," so brach Jason zuerst das Schweigen, "nun, da ich allein bei dir bin? Ich bin nicht, wie andere prahlerische Männer, und war auch zu Hause nie so. Fürchte dich nicht zu fragen und zu sagen, was dir beliebt; aber vergiß nicht, daß wir an einem heiligen Orte sind, wo betrügen ein Fre¬ vel wäre: darum täusche mich nicht mit süßen Worten; ich komme als ein Schutzflehender und bitte dich um die Heilmittel, die du deiner Schwester für mich versprochen. Die harte Nothwendigkeit zwingt mich, deine Hülfe zu
ſie ihn unterwegs betrachteten, mußten über ſeine Herr¬ lichkeit ſtaunen. Medea war unterdeſſen mit ihren Mäg¬ den im Tempel, und obwohl ſie ſich die Zeit mit Sin¬ gen verkürzten, ſo war doch ihr Geiſt in ganz andern Gedanken, und kein Lied wollte ihr lange gefallen; ihre Augen weilten nicht im Kreiſe ihrer Dienerinnen, ſon¬ dern ſchweiften durch die Tempelpforte verlangend über die Straße hinaus. Bei jedem Fußtritt oder Windhauch richtete ſich ihr Haupt begierig in die Höhe. Nicht lan¬ ge, ſo trat Jaſon mit ſeinen Begleitern in den Tempel, hoch einherſchreitend und ſchön wie Sirius dem Ocean entſteigt. Da war's der Jungfrau, als fiele ihr das Herz aus der Bruſt, Nacht war vor ihren Augen und mit heißem Roth bedeckte ſich ihre Wange. Inzwiſchen hatten ſie die Dienerinnen alle verlaſſen. Lange ſtanden der Held und die Königstochter einander ſtillſchweigend gegenüber, ſchlanken Eichen oder Tannen ähnlich, die auf den Bergen tiefgewurzelt in Windſtille regungslos bei einander ſtehen. Plötzlich aber kommt ein Sturm und alle Blätter zittern in rauſchender Bewegung; ſo ſollten, vom Hauch der Liebe angeweht, ſie bald vielbe¬ wegte Worte tauſchen. „Warum ſcheueſt du mich,“ ſo brach Jaſon zuerſt das Schweigen, „nun, da ich allein bei dir bin? Ich bin nicht, wie andere prahleriſche Männer, und war auch zu Hauſe nie ſo. Fürchte dich nicht zu fragen und zu ſagen, was dir beliebt; aber vergiß nicht, daß wir an einem heiligen Orte ſind, wo betrügen ein Fre¬ vel wäre: darum täuſche mich nicht mit ſüßen Worten; ich komme als ein Schutzflehender und bitte dich um die Heilmittel, die du deiner Schweſter für mich verſprochen. Die harte Nothwendigkeit zwingt mich, deine Hülfe zu
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ſie ihn unterwegs betrachteten, mußten über ſeine Herr¬
lichkeit ſtaunen. Medea war unterdeſſen mit ihren Mäg¬
den im Tempel, und obwohl ſie ſich die Zeit mit Sin¬
gen verkürzten, ſo war doch ihr Geiſt in ganz andern
Gedanken, und kein Lied wollte ihr lange gefallen; ihre
Augen weilten nicht im Kreiſe ihrer Dienerinnen, ſon¬
dern ſchweiften durch die Tempelpforte verlangend über
die Straße hinaus. Bei jedem Fußtritt oder Windhauch
richtete ſich ihr Haupt begierig in die Höhe. Nicht lan¬
ge, ſo trat Jaſon mit ſeinen Begleitern in den Tempel,
hoch einherſchreitend und ſchön wie Sirius dem Ocean
entſteigt. Da war's der Jungfrau, als fiele ihr das
Herz aus der Bruſt, Nacht war vor ihren Augen und
mit heißem Roth bedeckte ſich ihre Wange. Inzwiſchen
hatten ſie die Dienerinnen alle verlaſſen. Lange ſtanden
der Held und die Königstochter einander ſtillſchweigend
gegenüber, ſchlanken Eichen oder Tannen ähnlich, die
auf den Bergen tiefgewurzelt in Windſtille regungslos
bei einander ſtehen. Plötzlich aber kommt ein Sturm
und alle Blätter zittern in rauſchender Bewegung; ſo
ſollten, vom Hauch der Liebe angeweht, ſie bald vielbe¬
wegte Worte tauſchen. „Warum ſcheueſt du mich,“ ſo brach
Jaſon zuerſt das Schweigen, „nun, da ich allein bei dir
bin? Ich bin nicht, wie andere prahleriſche Männer, und
war auch zu Hauſe nie ſo. Fürchte dich nicht zu fragen
und zu ſagen, was dir beliebt; aber vergiß nicht, daß
wir an einem heiligen Orte ſind, wo betrügen ein Fre¬
vel wäre: darum täuſche mich nicht mit ſüßen Worten;
ich komme als ein Schutzflehender und bitte dich um die
Heilmittel, die du deiner Schweſter für mich verſprochen.
Die harte Nothwendigkeit zwingt mich, deine Hülfe zu
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/160>, abgerufen am 24.11.2024.
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