war. Medea selbst hatte in einer Muschel den Saft die¬ ser Pflanze als kostbares Heilmittel aufgefangen.
Der Wagen war gerüstet; zwei Mägde bestiegen ihn mit der Herrin, sie selbst ergriff Zügel und Peitsche und fuhr, von den übrigen Dienerinnen zu Fuße begleitet, durch die Stadt. Ueberall wich der Königstochter das Volk ehrerbietig aus dem Wege. Als sie durchs freie Feld am Tempel angekommen war, flog sie mit gewandtem Sprunge vom Wagen und sprach zu ihren Mägden mit listigen, verstellten Worten: "Freundinnen, ich habe wohl schwer gesündigt, daß ich nicht ferne von den Fremdlin¬ gen geblieben bin, die in unserm Lande angekommen sind! Nun verlangt gar meine Schwester und ihr Sohn Ar¬ gos, ich soll Geschenke von ihrem Führer annehmen, der die Stiere zu bändigen versprochen hat, und ihn mit Zaubermitteln unverwundlich machen! Ich aber habe zum Scheine zugesagt, und ihn hierher in den Tempel bestellt, wo ich ihn allein sprechen soll. Da will ich die Ge¬ schenke nehmen, und wir wollen sie nachher unter ein¬ ander vertheilen. Ihm selbst aber werde ich eine ver¬ derbliche Arzenei reichen, damit er um so gewisser zu Grunde geht! Entfernet euch indessen, sobald er kommt, damit er keinen Verdacht schöpfe und ich ihn allein em¬ pfangen kann, wie ich verheißen habe."
Den Mägden gefiel der schlaue Plan. Während diese im Tempel verweilten, machte sich Argos mit sei¬ nem Freunde Jason und dem Vogelschauer Mopsos auf. So schön war kein Sterblicher, ja keiner der Göttersöhne zuvor je gewesen, wie heute Jupiters Gemahlin ihren Schützling Jason mit allen Gaben der Huldgöttinnen ausgerüstet hatte. Seine beiden Genossen selbst, so oft
war. Medea ſelbſt hatte in einer Muſchel den Saft die¬ ſer Pflanze als koſtbares Heilmittel aufgefangen.
Der Wagen war gerüſtet; zwei Mägde beſtiegen ihn mit der Herrin, ſie ſelbſt ergriff Zügel und Peitſche und fuhr, von den übrigen Dienerinnen zu Fuße begleitet, durch die Stadt. Ueberall wich der Königstochter das Volk ehrerbietig aus dem Wege. Als ſie durchs freie Feld am Tempel angekommen war, flog ſie mit gewandtem Sprunge vom Wagen und ſprach zu ihren Mägden mit liſtigen, verſtellten Worten: „Freundinnen, ich habe wohl ſchwer geſündigt, daß ich nicht ferne von den Fremdlin¬ gen geblieben bin, die in unſerm Lande angekommen ſind! Nun verlangt gar meine Schweſter und ihr Sohn Ar¬ gos, ich ſoll Geſchenke von ihrem Führer annehmen, der die Stiere zu bändigen verſprochen hat, und ihn mit Zaubermitteln unverwundlich machen! Ich aber habe zum Scheine zugeſagt, und ihn hierher in den Tempel beſtellt, wo ich ihn allein ſprechen ſoll. Da will ich die Ge¬ ſchenke nehmen, und wir wollen ſie nachher unter ein¬ ander vertheilen. Ihm ſelbſt aber werde ich eine ver¬ derbliche Arzenei reichen, damit er um ſo gewiſſer zu Grunde geht! Entfernet euch indeſſen, ſobald er kommt, damit er keinen Verdacht ſchöpfe und ich ihn allein em¬ pfangen kann, wie ich verheißen habe.“
Den Mägden gefiel der ſchlaue Plan. Während dieſe im Tempel verweilten, machte ſich Argos mit ſei¬ nem Freunde Jaſon und dem Vogelſchauer Mopſos auf. So ſchön war kein Sterblicher, ja keiner der Götterſöhne zuvor je geweſen, wie heute Jupiters Gemahlin ihren Schützling Jaſon mit allen Gaben der Huldgöttinnen ausgerüſtet hatte. Seine beiden Genoſſen ſelbſt, ſo oft
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war. Medea ſelbſt hatte in einer Muſchel den Saft die¬
ſer Pflanze als koſtbares Heilmittel aufgefangen.
Der Wagen war gerüſtet; zwei Mägde beſtiegen ihn
mit der Herrin, ſie ſelbſt ergriff Zügel und Peitſche und
fuhr, von den übrigen Dienerinnen zu Fuße begleitet, durch
die Stadt. Ueberall wich der Königstochter das Volk
ehrerbietig aus dem Wege. Als ſie durchs freie Feld
am Tempel angekommen war, flog ſie mit gewandtem
Sprunge vom Wagen und ſprach zu ihren Mägden mit
liſtigen, verſtellten Worten: „Freundinnen, ich habe wohl
ſchwer geſündigt, daß ich nicht ferne von den Fremdlin¬
gen geblieben bin, die in unſerm Lande angekommen ſind!
Nun verlangt gar meine Schweſter und ihr Sohn Ar¬
gos, ich ſoll Geſchenke von ihrem Führer annehmen, der
die Stiere zu bändigen verſprochen hat, und ihn mit
Zaubermitteln unverwundlich machen! Ich aber habe zum
Scheine zugeſagt, und ihn hierher in den Tempel beſtellt,
wo ich ihn allein ſprechen ſoll. Da will ich die Ge¬
ſchenke nehmen, und wir wollen ſie nachher unter ein¬
ander vertheilen. Ihm ſelbſt aber werde ich eine ver¬
derbliche Arzenei reichen, damit er um ſo gewiſſer zu
Grunde geht! Entfernet euch indeſſen, ſobald er kommt,
damit er keinen Verdacht ſchöpfe und ich ihn allein em¬
pfangen kann, wie ich verheißen habe.“
Den Mägden gefiel der ſchlaue Plan. Während
dieſe im Tempel verweilten, machte ſich Argos mit ſei¬
nem Freunde Jaſon und dem Vogelſchauer Mopſos auf.
So ſchön war kein Sterblicher, ja keiner der Götterſöhne
zuvor je geweſen, wie heute Jupiters Gemahlin ihren
Schützling Jaſon mit allen Gaben der Huldgöttinnen
ausgerüſtet hatte. Seine beiden Genoſſen ſelbſt, ſo oft
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/159>, abgerufen am 24.11.2024.
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