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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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der Verbannung und die Sühnung eines Mordes handle.
Sie trug Scheu vor Jupiter, dem Beschirmer der Flehen¬
den und brachte das verlangte Opfer dar, indem sie eine
Hündin, die frisch geworfen hatte, schlachtete und den
reinigenden Jupiter dazu anrief. Ihre Dienerinnen, die
Najaden, mußten die Sühnungsmittel aus dem Hause
und in's Meer tragen; sie selbst stellte sich an den Heerd
und verbrannte heilige Opferkuchen unter feierlichen Ge¬
beten, um den Zorn der Furien zu besänftigen und die
Verzeihung des Göttervaters für die Mordbefleckten anzu¬
rufen. Als Alles vorüber war, ließ sie die Fremden erst
auf die glänzenden Stühle setzen und setzte sich ihnen gegen¬
über. Dann fragte sie die Fremdlinge über ihr Geschäft
und ihre Schiffahrt, woher sie kämen, warum sie hier ge¬
landet und wofür sie ihren Schutz begehrt hätten: denn
ihr blutiger Traum war ihr wieder in den Sinn gekom¬
men. Als die Jungfrau nun ihr Haupt aufrichtete und
ihr ins Angesicht sah, fielen ihr die Augen des Mädchens
auf: denn Medea stammte ja, wie Circe selbst, vom Son¬
nengotte; und alle Abkömmlinge dieses Gottes haben
strahlende Augen voll Goldglanz. Nun verlangte sie die
Muttersprache der Landesflüchtigen zu hören, und die
Jungfrau fing an, in kolchischer Mundart, Alles, was
mit Aeetes, den Helden und ihr geschehen war, der Wahr¬
heit nach zu erzählen; nur die Ermordung ihres Bruders
Absyrtus wollte sie nicht gestehen. Aber der Zaubergöt¬
tin Circe blieb nichts verborgen; doch jammerte sie ihrer
Nichte und sie sprach: "Arme, du bist unehrlich geflohen
und hast einen großen Frevel begangen. Gewiß wird
dein Vater nach Griechenland kommen, den Mord seines
Sohnes an dir zu rächen. Von mir jedoch sollst du kein

der Verbannung und die Sühnung eines Mordes handle.
Sie trug Scheu vor Jupiter, dem Beſchirmer der Flehen¬
den und brachte das verlangte Opfer dar, indem ſie eine
Hündin, die friſch geworfen hatte, ſchlachtete und den
reinigenden Jupiter dazu anrief. Ihre Dienerinnen, die
Najaden, mußten die Sühnungsmittel aus dem Hauſe
und in's Meer tragen; ſie ſelbſt ſtellte ſich an den Heerd
und verbrannte heilige Opferkuchen unter feierlichen Ge¬
beten, um den Zorn der Furien zu beſänftigen und die
Verzeihung des Göttervaters für die Mordbefleckten anzu¬
rufen. Als Alles vorüber war, ließ ſie die Fremden erſt
auf die glänzenden Stühle ſetzen und ſetzte ſich ihnen gegen¬
über. Dann fragte ſie die Fremdlinge über ihr Geſchäft
und ihre Schiffahrt, woher ſie kämen, warum ſie hier ge¬
landet und wofür ſie ihren Schutz begehrt hätten: denn
ihr blutiger Traum war ihr wieder in den Sinn gekom¬
men. Als die Jungfrau nun ihr Haupt aufrichtete und
ihr ins Angeſicht ſah, fielen ihr die Augen des Mädchens
auf: denn Medea ſtammte ja, wie Circe ſelbſt, vom Son¬
nengotte; und alle Abkömmlinge dieſes Gottes haben
ſtrahlende Augen voll Goldglanz. Nun verlangte ſie die
Mutterſprache der Landesflüchtigen zu hören, und die
Jungfrau fing an, in kolchiſcher Mundart, Alles, was
mit Aeetes, den Helden und ihr geſchehen war, der Wahr¬
heit nach zu erzählen; nur die Ermordung ihres Bruders
Abſyrtus wollte ſie nicht geſtehen. Aber der Zaubergöt¬
tin Circe blieb nichts verborgen; doch jammerte ſie ihrer
Nichte und ſie ſprach: „Arme, du biſt unehrlich geflohen
und haſt einen großen Frevel begangen. Gewiß wird
dein Vater nach Griechenland kommen, den Mord ſeines
Sohnes an dir zu rächen. Von mir jedoch ſollst du kein

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[157/0183] der Verbannung und die Sühnung eines Mordes handle. Sie trug Scheu vor Jupiter, dem Beſchirmer der Flehen¬ den und brachte das verlangte Opfer dar, indem ſie eine Hündin, die friſch geworfen hatte, ſchlachtete und den reinigenden Jupiter dazu anrief. Ihre Dienerinnen, die Najaden, mußten die Sühnungsmittel aus dem Hauſe und in's Meer tragen; ſie ſelbſt ſtellte ſich an den Heerd und verbrannte heilige Opferkuchen unter feierlichen Ge¬ beten, um den Zorn der Furien zu beſänftigen und die Verzeihung des Göttervaters für die Mordbefleckten anzu¬ rufen. Als Alles vorüber war, ließ ſie die Fremden erſt auf die glänzenden Stühle ſetzen und ſetzte ſich ihnen gegen¬ über. Dann fragte ſie die Fremdlinge über ihr Geſchäft und ihre Schiffahrt, woher ſie kämen, warum ſie hier ge¬ landet und wofür ſie ihren Schutz begehrt hätten: denn ihr blutiger Traum war ihr wieder in den Sinn gekom¬ men. Als die Jungfrau nun ihr Haupt aufrichtete und ihr ins Angeſicht ſah, fielen ihr die Augen des Mädchens auf: denn Medea ſtammte ja, wie Circe ſelbſt, vom Son¬ nengotte; und alle Abkömmlinge dieſes Gottes haben ſtrahlende Augen voll Goldglanz. Nun verlangte ſie die Mutterſprache der Landesflüchtigen zu hören, und die Jungfrau fing an, in kolchiſcher Mundart, Alles, was mit Aeetes, den Helden und ihr geſchehen war, der Wahr¬ heit nach zu erzählen; nur die Ermordung ihres Bruders Abſyrtus wollte ſie nicht geſtehen. Aber der Zaubergöt¬ tin Circe blieb nichts verborgen; doch jammerte ſie ihrer Nichte und ſie ſprach: „Arme, du biſt unehrlich geflohen und haſt einen großen Frevel begangen. Gewiß wird dein Vater nach Griechenland kommen, den Mord ſeines Sohnes an dir zu rächen. Von mir jedoch ſollst du kein

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/183>, abgerufen am 24.11.2024.