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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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weiteres Uebel leiden, weil du eine Schutzflehende und
dazu meine Verwandte bist. Nur verlang' auch keine
Hülfe von mir. Entferne dich mit dem fremden Manne,
wer es auch seyn mag. Ich kann weder deine Plane,
noch deine schimpfliche Flucht billigen!" Ein unendlicher
Schmerz ergriff die Jungfrau bei diesen Worten. Sie
warf den Schleier über ihr Haupt und weinte bitterlich,
bis der Held sie an der Hand ergriff und die Wankende
mit sich aus Circe's Pallast hinausführte.

Doch Juno erbarmte sich ihrer Schützlinge. Sie
sandte ihre Botin Iris auf dem bunten Regenbogenpfade
zur Meeresgöttin Thetis hinab, ließ diese zu sich rufen
und empfahl das Heldenschiff ihrem Schirm. Sogleich
mit Jason's und Medea's Ankunft an Bord fingen nun
sanfte Zephyre zu wehen an; leichteren Muthes lichteten
die Helden die Anker und spannten die hohen Segel aus.
Mit sanftem Winde wogte das Schiff weiter und bald
stellte sich ihnen eine schöne blühende Insel dar, die der
Sitz der trügerischen Sirenen war, welche die Vorüber¬
schiffenden durch ihre Gesänge anzulocken und zu verder¬
ben pflegten. Halb Vögel halb Jungfrauen saßen sie im¬
mer auf ihrer Warte und kein Fremder, der vorüberfuhr,
entging ihnen. Auch jetzt sangen sie den Argonauten die
schönsten Lieder zu, und schon waren diese im Begriffe,
die Taue nach dem Ufer zu werfen und anzulegen, als
der thracische Sänger Orpheus sich von seinem Sitze er¬
hob und seine göttliche Leier so mächtig zu schlagen be¬
gann, daß sie die Stimmen der Jungfrauen übertönte;
zugleich blies ein tönender gottgesandter Zephyr in den
Rücken des Schiffes, so daß der Sirenengesang ganz
in den Lüften verhallte. Nur Einer der Genossen, Butes,

weiteres Uebel leiden, weil du eine Schutzflehende und
dazu meine Verwandte biſt. Nur verlang' auch keine
Hülfe von mir. Entferne dich mit dem fremden Manne,
wer es auch ſeyn mag. Ich kann weder deine Plane,
noch deine ſchimpfliche Flucht billigen!“ Ein unendlicher
Schmerz ergriff die Jungfrau bei dieſen Worten. Sie
warf den Schleier über ihr Haupt und weinte bitterlich,
bis der Held ſie an der Hand ergriff und die Wankende
mit ſich aus Circe's Pallaſt hinausführte.

Doch Juno erbarmte ſich ihrer Schützlinge. Sie
ſandte ihre Botin Iris auf dem bunten Regenbogenpfade
zur Meeresgöttin Thetis hinab, ließ dieſe zu ſich rufen
und empfahl das Heldenſchiff ihrem Schirm. Sogleich
mit Jaſon's und Medea's Ankunft an Bord fingen nun
ſanfte Zephyre zu wehen an; leichteren Muthes lichteten
die Helden die Anker und ſpannten die hohen Segel aus.
Mit ſanftem Winde wogte das Schiff weiter und bald
ſtellte ſich ihnen eine ſchöne blühende Inſel dar, die der
Sitz der trügeriſchen Sirenen war, welche die Vorüber¬
ſchiffenden durch ihre Geſänge anzulocken und zu verder¬
ben pflegten. Halb Vögel halb Jungfrauen ſaßen ſie im¬
mer auf ihrer Warte und kein Fremder, der vorüberfuhr,
entging ihnen. Auch jetzt ſangen ſie den Argonauten die
ſchönſten Lieder zu, und ſchon waren dieſe im Begriffe,
die Taue nach dem Ufer zu werfen und anzulegen, als
der thraciſche Sänger Orpheus ſich von ſeinem Sitze er¬
hob und ſeine göttliche Leier ſo mächtig zu ſchlagen be¬
gann, daß ſie die Stimmen der Jungfrauen übertönte;
zugleich blies ein tönender gottgeſandter Zephyr in den
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[158/0184] weiteres Uebel leiden, weil du eine Schutzflehende und dazu meine Verwandte biſt. Nur verlang' auch keine Hülfe von mir. Entferne dich mit dem fremden Manne, wer es auch ſeyn mag. Ich kann weder deine Plane, noch deine ſchimpfliche Flucht billigen!“ Ein unendlicher Schmerz ergriff die Jungfrau bei dieſen Worten. Sie warf den Schleier über ihr Haupt und weinte bitterlich, bis der Held ſie an der Hand ergriff und die Wankende mit ſich aus Circe's Pallaſt hinausführte. Doch Juno erbarmte ſich ihrer Schützlinge. Sie ſandte ihre Botin Iris auf dem bunten Regenbogenpfade zur Meeresgöttin Thetis hinab, ließ dieſe zu ſich rufen und empfahl das Heldenſchiff ihrem Schirm. Sogleich mit Jaſon's und Medea's Ankunft an Bord fingen nun ſanfte Zephyre zu wehen an; leichteren Muthes lichteten die Helden die Anker und ſpannten die hohen Segel aus. Mit ſanftem Winde wogte das Schiff weiter und bald ſtellte ſich ihnen eine ſchöne blühende Inſel dar, die der Sitz der trügeriſchen Sirenen war, welche die Vorüber¬ ſchiffenden durch ihre Geſänge anzulocken und zu verder¬ ben pflegten. Halb Vögel halb Jungfrauen ſaßen ſie im¬ mer auf ihrer Warte und kein Fremder, der vorüberfuhr, entging ihnen. Auch jetzt ſangen ſie den Argonauten die ſchönſten Lieder zu, und ſchon waren dieſe im Begriffe, die Taue nach dem Ufer zu werfen und anzulegen, als der thraciſche Sänger Orpheus ſich von ſeinem Sitze er¬ hob und ſeine göttliche Leier ſo mächtig zu ſchlagen be¬ gann, daß ſie die Stimmen der Jungfrauen übertönte; zugleich blies ein tönender gottgeſandter Zephyr in den Rücken des Schiffes, ſo daß der Sirenengeſang ganz in den Lüften verhallte. Nur Einer der Genoſſen, Butes,

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/184>, abgerufen am 24.11.2024.