Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

In der Nacht rathschlagte der König mit seiner Ge¬
mahlin über das kolchische Mädchen. Arete bat für sie
und erzählte ihm, daß der große Held Jason sie zu sei¬
ner rechtmäßigen Gemahlin machen wolle. Alcinous war
ein sanfter Mann und sein Gemüth wurde noch weicher,
als er dieses hörte, "Gerne würde ich," erwiederte er sei¬
ner Gemahlin, "die Kolchier den Helden und der Jungfrau
zulieb auch mit den Waffen vertreiben, aber ich fürchte
das Gastrecht Jupiters zu verletzen; auch ist es nicht klug
den mächtigen König Aeetes zu reizen, denn, so ferne er
wohnt, er wäre doch im Stande Griechenland mit einem
Kriege zu überziehen. Höre daher den Rathschluß, den
ich gefaßt habe. Ist das Mädchen noch eine freie Jung¬
frau, so soll sie ihrem Vater zurückgegeben werden; ist
sie aber des Helden Gemahlin, so werde ich sie dem Gat¬
ten nicht rauben, denn diesem gehört sie vor dem Vater."
Arete erschrack, als sie diesen Entschluß des Königes hörte.
Noch in der Nacht sandte sie einen Herold zu Jason, der
ihm alles hinterbrachte und ihm rieth sich noch vor An¬
bruch des Morgens mit Medea zu vermählen. Die Helden,
welchen Jason den unerwarteten Vorschlag mittheilte, wa¬
ren es alle zufrieden und so wurde unter den Liedern des
Orpheus, in einer heiligen Grotte, die Jungfrau feierlich
zur Gattin Jasons eingeweiht.

Am andern Morgen, als die Ufer der Insel und das
thauige Feld von den ersten Sonnenstrahlen schimmerten,
rührte sich alles Phäakenvolk auf den Straßen der Stadt,
und am andern Ende der Insel standen die Kolchier auch
schon unter den Waffen. Alcinous trat versprochenerma¬
ßen hervor aus seinem Pallaste, das goldne Scepter in
der Hand, zu richten über das Mädchen; hinter ihm gin¬

Schwab, das klass. Alterthum. I. 11

In der Nacht rathſchlagte der König mit ſeiner Ge¬
mahlin über das kolchiſche Mädchen. Arete bat für ſie
und erzählte ihm, daß der große Held Jaſon ſie zu ſei¬
ner rechtmäßigen Gemahlin machen wolle. Alcinous war
ein ſanfter Mann und ſein Gemüth wurde noch weicher,
als er dieſes hörte, „Gerne würde ich,“ erwiederte er ſei¬
ner Gemahlin, „die Kolchier den Helden und der Jungfrau
zulieb auch mit den Waffen vertreiben, aber ich fürchte
das Gaſtrecht Jupiters zu verletzen; auch iſt es nicht klug
den mächtigen König Aeetes zu reizen, denn, ſo ferne er
wohnt, er wäre doch im Stande Griechenland mit einem
Kriege zu überziehen. Höre daher den Rathſchluß, den
ich gefaßt habe. Iſt das Mädchen noch eine freie Jung¬
frau, ſo ſoll ſie ihrem Vater zurückgegeben werden; iſt
ſie aber des Helden Gemahlin, ſo werde ich ſie dem Gat¬
ten nicht rauben, denn dieſem gehört ſie vor dem Vater.“
Arete erſchrack, als ſie dieſen Entſchluß des Königes hörte.
Noch in der Nacht ſandte ſie einen Herold zu Jaſon, der
ihm alles hinterbrachte und ihm rieth ſich noch vor An¬
bruch des Morgens mit Medea zu vermählen. Die Helden,
welchen Jaſon den unerwarteten Vorſchlag mittheilte, wa¬
ren es alle zufrieden und ſo wurde unter den Liedern des
Orpheus, in einer heiligen Grotte, die Jungfrau feierlich
zur Gattin Jaſons eingeweiht.

Am andern Morgen, als die Ufer der Inſel und das
thauige Feld von den erſten Sonnenſtrahlen ſchimmerten,
rührte ſich alles Phäakenvolk auf den Straßen der Stadt,
und am andern Ende der Inſel ſtanden die Kolchier auch
ſchon unter den Waffen. Alcinous trat verſprochenerma¬
ßen hervor aus ſeinem Pallaſte, das goldne Scepter in
der Hand, zu richten über das Mädchen; hinter ihm gin¬

Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 11
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0187" n="161"/>
            <p>In der Nacht rath&#x017F;chlagte der König mit &#x017F;einer Ge¬<lb/>
mahlin über das kolchi&#x017F;che Mädchen. Arete bat für &#x017F;ie<lb/>
und erzählte ihm, daß der große Held Ja&#x017F;on &#x017F;ie zu &#x017F;ei¬<lb/>
ner rechtmäßigen Gemahlin machen wolle. Alcinous war<lb/>
ein &#x017F;anfter Mann und &#x017F;ein Gemüth wurde noch weicher,<lb/>
als er die&#x017F;es hörte, &#x201E;Gerne würde ich,&#x201C; erwiederte er &#x017F;ei¬<lb/>
ner Gemahlin, &#x201E;die Kolchier den Helden und der Jungfrau<lb/>
zulieb auch mit den Waffen vertreiben, aber ich fürchte<lb/>
das Ga&#x017F;trecht Jupiters zu verletzen; auch i&#x017F;t es nicht klug<lb/>
den mächtigen König Aeetes zu reizen, denn, &#x017F;o ferne er<lb/>
wohnt, er wäre doch im Stande Griechenland mit einem<lb/>
Kriege zu überziehen. Höre daher den Rath&#x017F;chluß, den<lb/>
ich gefaßt habe. I&#x017F;t das Mädchen noch eine freie Jung¬<lb/>
frau, &#x017F;o &#x017F;oll &#x017F;ie ihrem Vater zurückgegeben werden; i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ie aber des Helden Gemahlin, &#x017F;o werde ich &#x017F;ie dem Gat¬<lb/>
ten nicht rauben, denn die&#x017F;em gehört &#x017F;ie vor dem Vater.&#x201C;<lb/>
Arete er&#x017F;chrack, als &#x017F;ie die&#x017F;en Ent&#x017F;chluß des Königes hörte.<lb/>
Noch in der Nacht &#x017F;andte &#x017F;ie einen Herold zu Ja&#x017F;on, der<lb/>
ihm alles hinterbrachte und ihm rieth &#x017F;ich noch vor An¬<lb/>
bruch des Morgens mit Medea zu vermählen. Die Helden,<lb/>
welchen Ja&#x017F;on den unerwarteten Vor&#x017F;chlag mittheilte, wa¬<lb/>
ren es alle zufrieden und &#x017F;o wurde unter den Liedern des<lb/>
Orpheus, in einer heiligen Grotte, die Jungfrau feierlich<lb/>
zur Gattin Ja&#x017F;ons eingeweiht.</p><lb/>
            <p>Am andern Morgen, als die Ufer der In&#x017F;el und das<lb/>
thauige Feld von den er&#x017F;ten Sonnen&#x017F;trahlen &#x017F;chimmerten,<lb/>
rührte &#x017F;ich alles Phäakenvolk auf den Straßen der Stadt,<lb/>
und am andern Ende der In&#x017F;el &#x017F;tanden die Kolchier auch<lb/>
&#x017F;chon unter den Waffen. Alcinous trat ver&#x017F;prochenerma¬<lb/>
ßen hervor aus &#x017F;einem Palla&#x017F;te, das goldne Scepter in<lb/>
der Hand, zu richten über das Mädchen; hinter ihm gin¬<lb/>
<fw type="sig" place="bottom">Schwab, das kla&#x017F;&#x017F;. Alterthum. <hi rendition="#aq">I</hi>. 11<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[161/0187] In der Nacht rathſchlagte der König mit ſeiner Ge¬ mahlin über das kolchiſche Mädchen. Arete bat für ſie und erzählte ihm, daß der große Held Jaſon ſie zu ſei¬ ner rechtmäßigen Gemahlin machen wolle. Alcinous war ein ſanfter Mann und ſein Gemüth wurde noch weicher, als er dieſes hörte, „Gerne würde ich,“ erwiederte er ſei¬ ner Gemahlin, „die Kolchier den Helden und der Jungfrau zulieb auch mit den Waffen vertreiben, aber ich fürchte das Gaſtrecht Jupiters zu verletzen; auch iſt es nicht klug den mächtigen König Aeetes zu reizen, denn, ſo ferne er wohnt, er wäre doch im Stande Griechenland mit einem Kriege zu überziehen. Höre daher den Rathſchluß, den ich gefaßt habe. Iſt das Mädchen noch eine freie Jung¬ frau, ſo ſoll ſie ihrem Vater zurückgegeben werden; iſt ſie aber des Helden Gemahlin, ſo werde ich ſie dem Gat¬ ten nicht rauben, denn dieſem gehört ſie vor dem Vater.“ Arete erſchrack, als ſie dieſen Entſchluß des Königes hörte. Noch in der Nacht ſandte ſie einen Herold zu Jaſon, der ihm alles hinterbrachte und ihm rieth ſich noch vor An¬ bruch des Morgens mit Medea zu vermählen. Die Helden, welchen Jaſon den unerwarteten Vorſchlag mittheilte, wa¬ ren es alle zufrieden und ſo wurde unter den Liedern des Orpheus, in einer heiligen Grotte, die Jungfrau feierlich zur Gattin Jaſons eingeweiht. Am andern Morgen, als die Ufer der Inſel und das thauige Feld von den erſten Sonnenſtrahlen ſchimmerten, rührte ſich alles Phäakenvolk auf den Straßen der Stadt, und am andern Ende der Inſel ſtanden die Kolchier auch ſchon unter den Waffen. Alcinous trat verſprochenerma¬ ßen hervor aus ſeinem Pallaſte, das goldne Scepter in der Hand, zu richten über das Mädchen; hinter ihm gin¬ Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 11

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/187
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/187>, abgerufen am 24.11.2024.