den König von Trözen geneigt, dem Manne, der schon zu Hause eine Gattin hatte, seine Tochter Aethra heim¬ lich zu vermählen. Als dieses geschehen war, blieb Aegeus nur noch wenige Tage zu Trözen und reiste dann wie¬ der nach Athen zurück. Als er am Meeresufer Abschied von seiner neuvermählten Gattin nahm, legte er Schwerdt und Fußsohlen unter ein Felsstück und sprach: Wenn die Götter unserem Bunde, den ich nicht aus Leichtsinn ge¬ schlossen habe, sondern um meinem Haus und Land eine Stütze zu verschaffen, hold sind und dir einen Sohn ge¬ währen, so ziehe ihn heimlich auf und sage keinem Men¬ schen, wer sein Vater ist. Ist er so weit herangewach¬ sen, daß er im Stande ist, das Felsstück abzuwälzen, so führe ihn an diese Stelle, laß ihn Schwerdt und Schuhe hervorholen und sende ihn damit zu mir nach Athen. Aethra gebar auch wirklich einen Sohn, nannte ihn Theseus und ließ ihn unter der Fürsorge seines Gro߬ vaters Pittheus aufwachsen; den wahren Vater des The¬ seus verheimlichte sie dem Befehl ihres Gatten gemäß, und der Großvater verbreitete die Sage, daß er ein Sohn des Neptunus sey. Diesem Gott erwiesen nämlich die Trözenier besondere Ehre als dem Schutzgott ihrer Stadt, brachten ihm die Erstlinge ihrer Früchte zum Opfer und sein Dreizack war das Abzeichen von Trözen. So gab es dem Lande keinen Anstoß, wenn die Königstochter einer Leibesfrucht von dem hochgeehrten Gotte gewür¬ digt worden war. Als aber der Jüngling nicht blos zu herrlicher Körperstärke heranwuchs, sondern auch Kühn¬ heit, Einsicht und festen Sinn zeigte, da führte ihn seine Mutter Aethra zu dem Steine, unterrichtete ihn über seine wahre Herkunft, und forderte ihn auf, die Erkennungs¬
den König von Trözen geneigt, dem Manne, der ſchon zu Hauſe eine Gattin hatte, ſeine Tochter Aethra heim¬ lich zu vermählen. Als dieſes geſchehen war, blieb Aegeus nur noch wenige Tage zu Trözen und reiſte dann wie¬ der nach Athen zurück. Als er am Meeresufer Abſchied von ſeiner neuvermählten Gattin nahm, legte er Schwerdt und Fußſohlen unter ein Felsſtück und ſprach: Wenn die Götter unſerem Bunde, den ich nicht aus Leichtſinn ge¬ ſchloſſen habe, ſondern um meinem Haus und Land eine Stütze zu verſchaffen, hold ſind und dir einen Sohn ge¬ währen, ſo ziehe ihn heimlich auf und ſage keinem Men¬ ſchen, wer ſein Vater iſt. Iſt er ſo weit herangewach¬ ſen, daß er im Stande iſt, das Felsſtück abzuwälzen, ſo führe ihn an dieſe Stelle, laß ihn Schwerdt und Schuhe hervorholen und ſende ihn damit zu mir nach Athen. Aethra gebar auch wirklich einen Sohn, nannte ihn Theſeus und ließ ihn unter der Fürſorge ſeines Gro߬ vaters Pittheus aufwachſen; den wahren Vater des The¬ ſeus verheimlichte ſie dem Befehl ihres Gatten gemäß, und der Großvater verbreitete die Sage, daß er ein Sohn des Neptunus ſey. Dieſem Gott erwieſen nämlich die Trözenier beſondere Ehre als dem Schutzgott ihrer Stadt, brachten ihm die Erſtlinge ihrer Früchte zum Opfer und ſein Dreizack war das Abzeichen von Trözen. So gab es dem Lande keinen Anſtoß, wenn die Königstochter einer Leibesfrucht von dem hochgeehrten Gotte gewür¬ digt worden war. Als aber der Jüngling nicht blos zu herrlicher Körperſtärke heranwuchs, ſondern auch Kühn¬ heit, Einſicht und feſten Sinn zeigte, da führte ihn ſeine Mutter Aethra zu dem Steine, unterrichtete ihn über ſeine wahre Herkunft, und forderte ihn auf, die Erkennungs¬
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den König von Trözen geneigt, dem Manne, der ſchon
zu Hauſe eine Gattin hatte, ſeine Tochter Aethra heim¬
lich zu vermählen. Als dieſes geſchehen war, blieb Aegeus
nur noch wenige Tage zu Trözen und reiſte dann wie¬
der nach Athen zurück. Als er am Meeresufer Abſchied
von ſeiner neuvermählten Gattin nahm, legte er Schwerdt
und Fußſohlen unter ein Felsſtück und ſprach: Wenn die
Götter unſerem Bunde, den ich nicht aus Leichtſinn ge¬
ſchloſſen habe, ſondern um meinem Haus und Land eine
Stütze zu verſchaffen, hold ſind und dir einen Sohn ge¬
währen, ſo ziehe ihn heimlich auf und ſage keinem Men¬
ſchen, wer ſein Vater iſt. Iſt er ſo weit herangewach¬
ſen, daß er im Stande iſt, das Felsſtück abzuwälzen, ſo
führe ihn an dieſe Stelle, laß ihn Schwerdt und Schuhe
hervorholen und ſende ihn damit zu mir nach Athen.
Aethra gebar auch wirklich einen Sohn, nannte ihn
Theſeus und ließ ihn unter der Fürſorge ſeines Gro߬
vaters Pittheus aufwachſen; den wahren Vater des The¬
ſeus verheimlichte ſie dem Befehl ihres Gatten gemäß, und
der Großvater verbreitete die Sage, daß er ein Sohn
des Neptunus ſey. Dieſem Gott erwieſen nämlich die
Trözenier beſondere Ehre als dem Schutzgott ihrer Stadt,
brachten ihm die Erſtlinge ihrer Früchte zum Opfer und
ſein Dreizack war das Abzeichen von Trözen. So gab
es dem Lande keinen Anſtoß, wenn die Königstochter
einer Leibesfrucht von dem hochgeehrten Gotte gewür¬
digt worden war. Als aber der Jüngling nicht blos zu
herrlicher Körperſtärke heranwuchs, ſondern auch Kühn¬
heit, Einſicht und feſten Sinn zeigte, da führte ihn ſeine
Mutter Aethra zu dem Steine, unterrichtete ihn über ſeine
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/304>, abgerufen am 22.11.2024.
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