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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Lage. Medea, die auf ihrem Drachenwagen Corinth und
den verzweifelnden Jason verlassen hatte, war zu Athen
angekommen, hatte sich in die Gunst des alten Aegeus
eingeschlichen und versprochen, durch ihre Zaubermittel
ihm die Kraft seiner Jugend zurückzugeben. Deswegen
lebte der König mit ihr in vertrautem Verhältnisse. Durch
ihren Zauber hatte das furchtbare Weib vorher Kunde
von der Ankunft des Theseus erhalten und nun überre¬
dete sie den Aegeus, den der Parteizwist seiner Bürger
mit Argwohn erfüllte, den Fremdling, in welchem der
Greis den Sohn nicht ahnte, und den sie ihm als einen
gefährlichen Späher darzustellen wußte, als Gast zu be¬
wirthen und mit Gift aus dem Wege zu räumen. So
erschien denn Theseus unerkannt beim Frühmahle und freute
sich den Vater selbst entdecken zu lassen, wen er vor sich
habe. Schon war ihm der Giftbecher vorgesetzt, und
Medea harrte mit Ungeduld auf den Augenblick, wo der
neue Ankömmling, von dem sie aus dem Hause vertrieben
zu werden fürchtete, die ersten Züge daraus thun würde,
die wirksam genug seyn sollten, ihm die jungen wachsamen
Augen für immer zu schließen. Theseus aber, den mehr
nach der Umarmung seines Vaters als nach dem Becher
verlangte, zog, scheinbar um das vorgelegte Fleisch zu
zerschneiden, das Schwert, das sein Vater für ihn un¬
ter den Felsblock hinterlegt hatte, damit Aegeus es
gewahr werden und den Sohn in ihm erkennen sollte.
Dieser sah nicht sobald das ihm wohlbekannte Schwerdt
blinken, als er den Giftbecher umwarf, und nachdem er
sich durch einige Fragen vollends überzeugt hatte, daß er
den vom Schicksal ersehnten Sohn in junger Heldenblüthe
vor sich habe, so schloß er ihn in seine Arme. Sofort

Lage. Medea, die auf ihrem Drachenwagen Corinth und
den verzweifelnden Jaſon verlaſſen hatte, war zu Athen
angekommen, hatte ſich in die Gunſt des alten Aegeus
eingeſchlichen und verſprochen, durch ihre Zaubermittel
ihm die Kraft ſeiner Jugend zurückzugeben. Deswegen
lebte der König mit ihr in vertrautem Verhältniſſe. Durch
ihren Zauber hatte das furchtbare Weib vorher Kunde
von der Ankunft des Theſeus erhalten und nun überre¬
dete ſie den Aegeus, den der Parteizwiſt ſeiner Bürger
mit Argwohn erfüllte, den Fremdling, in welchem der
Greis den Sohn nicht ahnte, und den ſie ihm als einen
gefährlichen Späher darzuſtellen wußte, als Gaſt zu be¬
wirthen und mit Gift aus dem Wege zu räumen. So
erſchien denn Theſeus unerkannt beim Frühmahle und freute
ſich den Vater ſelbſt entdecken zu laſſen, wen er vor ſich
habe. Schon war ihm der Giftbecher vorgeſetzt, und
Medea harrte mit Ungeduld auf den Augenblick, wo der
neue Ankömmling, von dem ſie aus dem Hauſe vertrieben
zu werden fürchtete, die erſten Züge daraus thun würde,
die wirkſam genug ſeyn ſollten, ihm die jungen wachſamen
Augen für immer zu ſchließen. Theſeus aber, den mehr
nach der Umarmung ſeines Vaters als nach dem Becher
verlangte, zog, ſcheinbar um das vorgelegte Fleiſch zu
zerſchneiden, das Schwert, das ſein Vater für ihn un¬
ter den Felsblock hinterlegt hatte, damit Aegeus es
gewahr werden und den Sohn in ihm erkennen ſollte.
Dieſer ſah nicht ſobald das ihm wohlbekannte Schwerdt
blinken, als er den Giftbecher umwarf, und nachdem er
ſich durch einige Fragen vollends überzeugt hatte, daß er
den vom Schickſal erſehnten Sohn in junger Heldenblüthe
vor ſich habe, ſo ſchloß er ihn in ſeine Arme. Sofort

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[284/0310] Lage. Medea, die auf ihrem Drachenwagen Corinth und den verzweifelnden Jaſon verlaſſen hatte, war zu Athen angekommen, hatte ſich in die Gunſt des alten Aegeus eingeſchlichen und verſprochen, durch ihre Zaubermittel ihm die Kraft ſeiner Jugend zurückzugeben. Deswegen lebte der König mit ihr in vertrautem Verhältniſſe. Durch ihren Zauber hatte das furchtbare Weib vorher Kunde von der Ankunft des Theſeus erhalten und nun überre¬ dete ſie den Aegeus, den der Parteizwiſt ſeiner Bürger mit Argwohn erfüllte, den Fremdling, in welchem der Greis den Sohn nicht ahnte, und den ſie ihm als einen gefährlichen Späher darzuſtellen wußte, als Gaſt zu be¬ wirthen und mit Gift aus dem Wege zu räumen. So erſchien denn Theſeus unerkannt beim Frühmahle und freute ſich den Vater ſelbſt entdecken zu laſſen, wen er vor ſich habe. Schon war ihm der Giftbecher vorgeſetzt, und Medea harrte mit Ungeduld auf den Augenblick, wo der neue Ankömmling, von dem ſie aus dem Hauſe vertrieben zu werden fürchtete, die erſten Züge daraus thun würde, die wirkſam genug ſeyn ſollten, ihm die jungen wachſamen Augen für immer zu ſchließen. Theſeus aber, den mehr nach der Umarmung ſeines Vaters als nach dem Becher verlangte, zog, ſcheinbar um das vorgelegte Fleiſch zu zerſchneiden, das Schwert, das ſein Vater für ihn un¬ ter den Felsblock hinterlegt hatte, damit Aegeus es gewahr werden und den Sohn in ihm erkennen ſollte. Dieſer ſah nicht ſobald das ihm wohlbekannte Schwerdt blinken, als er den Giftbecher umwarf, und nachdem er ſich durch einige Fragen vollends überzeugt hatte, daß er den vom Schickſal erſehnten Sohn in junger Heldenblüthe vor ſich habe, ſo ſchloß er ihn in ſeine Arme. Sofort

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/310>, abgerufen am 22.11.2024.