Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

die Leiche auf den Boden senkte, und, wie sie nun vor
ihm ausgestreckt lag, riß er die goldgetriebenen Brust¬
spangen aus dem Gewande der Frau. Diese hob er hoch
in der Rechten auf, fluchte seinen Augen, daß sie nimmer
schauen sollten, was er that und duldete, und wühlte mit
dem spitzen Gold in denselben, bis die Augäpfel durchbohrt
waren und ein Blutstrom aus den Höhlen drang. Dann
verlangte er, ihm, dem Geblendeten, das Thor zu öffnen,
ihn herauszuführen, ihn dem ganzen Thebanervolk, als
den Vatermörder, als den Muttergatten, als einen Fluch
des Himmels und ein Scheusal der Erde vorzustellen.
Die Diener erfüllten sein Verlangen, aber das Volk em¬
pfing den einst so geliebten und verehrten Herrscher nicht
mit Abscheu, sondern mit innigem Mitleid. Kreon selbst,
sein Schwager, den sein ungerechter Verdacht gekränkt
hatte, eilte herbei, nicht um ihn zu verspotten, wohl aber
um den fluchbelasteten Mann dem Sonnenlicht und dem
Auge des Volkes zu entziehen und ihm dem Kreise seiner
Kinder anzuempfehlen. Den gebeugten Oedipus rührte
so viel Güte. Er übergab seinem Schwager den Thron,
den er seinen jungen Söhnen aufbewahren sollte, und er¬
bat sich für seine unselige Mutter ein Grab, für seine
verwaisten Töchter den Schutz des neuen Herrschers:
für sich selbst aber begehrte er Ausstossung aus dem
Lande, das er mit doppeltem Frevel besudelt, und Ver¬
bannung auf den Berg Cithäron, den schon die Aeltern
ihm zum Grabe bestimmt hatten, und wo er jetzt leben
oder sterben wollte, je nach der Götter Willen. Dann
verlangte er noch nach seinen Töchtern, deren Stimme
er noch einmal hören wollte, und legte seine Hand auf
ihre unschuldigen Häupter. Den Kreon segnete er für

die Leiche auf den Boden ſenkte, und, wie ſie nun vor
ihm ausgeſtreckt lag, riß er die goldgetriebenen Bruſt¬
ſpangen aus dem Gewande der Frau. Dieſe hob er hoch
in der Rechten auf, fluchte ſeinen Augen, daß ſie nimmer
ſchauen ſollten, was er that und duldete, und wühlte mit
dem ſpitzen Gold in denſelben, bis die Augäpfel durchbohrt
waren und ein Blutſtrom aus den Höhlen drang. Dann
verlangte er, ihm, dem Geblendeten, das Thor zu öffnen,
ihn herauszuführen, ihn dem ganzen Thebanervolk, als
den Vatermörder, als den Muttergatten, als einen Fluch
des Himmels und ein Scheuſal der Erde vorzuſtellen.
Die Diener erfüllten ſein Verlangen, aber das Volk em¬
pfing den einſt ſo geliebten und verehrten Herrſcher nicht
mit Abſcheu, ſondern mit innigem Mitleid. Kreon ſelbſt,
ſein Schwager, den ſein ungerechter Verdacht gekränkt
hatte, eilte herbei, nicht um ihn zu verſpotten, wohl aber
um den fluchbelaſteten Mann dem Sonnenlicht und dem
Auge des Volkes zu entziehen und ihm dem Kreiſe ſeiner
Kinder anzuempfehlen. Den gebeugten Oedipus rührte
ſo viel Güte. Er übergab ſeinem Schwager den Thron,
den er ſeinen jungen Söhnen aufbewahren ſollte, und er¬
bat ſich für ſeine unſelige Mutter ein Grab, für ſeine
verwaiſten Töchter den Schutz des neuen Herrſchers:
für ſich ſelbſt aber begehrte er Ausſtoſſung aus dem
Lande, das er mit doppeltem Frevel beſudelt, und Ver¬
bannung auf den Berg Cithäron, den ſchon die Aeltern
ihm zum Grabe beſtimmt hatten, und wo er jetzt leben
oder ſterben wollte, je nach der Götter Willen. Dann
verlangte er noch nach ſeinen Töchtern, deren Stimme
er noch einmal hören wollte, und legte ſeine Hand auf
ihre unſchuldigen Häupter. Den Kreon ſegnete er für

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0351" n="325"/>
die Leiche auf den Boden &#x017F;enkte, und, wie &#x017F;ie nun vor<lb/>
ihm ausge&#x017F;treckt lag, riß er die goldgetriebenen Bru&#x017F;<lb/>
&#x017F;pangen aus dem Gewande der Frau. Die&#x017F;e hob er hoch<lb/>
in der Rechten auf, fluchte &#x017F;einen Augen, daß &#x017F;ie nimmer<lb/>
&#x017F;chauen &#x017F;ollten, was er that und duldete, und wühlte mit<lb/>
dem &#x017F;pitzen Gold in den&#x017F;elben, bis die Augäpfel durchbohrt<lb/>
waren und ein Blut&#x017F;trom aus den Höhlen drang. Dann<lb/>
verlangte er, ihm, dem Geblendeten, das Thor zu öffnen,<lb/>
ihn herauszuführen, ihn dem ganzen Thebanervolk, als<lb/>
den Vatermörder, als den Muttergatten, als einen Fluch<lb/>
des Himmels und ein Scheu&#x017F;al der Erde vorzu&#x017F;tellen.<lb/>
Die Diener erfüllten &#x017F;ein Verlangen, aber das Volk em¬<lb/>
pfing den ein&#x017F;t &#x017F;o geliebten und verehrten Herr&#x017F;cher nicht<lb/>
mit Ab&#x017F;cheu, &#x017F;ondern mit innigem Mitleid. Kreon &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;ein Schwager, den &#x017F;ein ungerechter Verdacht gekränkt<lb/>
hatte, eilte herbei, nicht um ihn zu ver&#x017F;potten, wohl aber<lb/>
um den fluchbela&#x017F;teten Mann dem Sonnenlicht und dem<lb/>
Auge des Volkes zu entziehen und ihm dem Krei&#x017F;e &#x017F;einer<lb/>
Kinder anzuempfehlen. Den gebeugten Oedipus rührte<lb/>
&#x017F;o viel Güte. Er übergab &#x017F;einem Schwager den Thron,<lb/>
den er &#x017F;einen jungen Söhnen aufbewahren &#x017F;ollte, und er¬<lb/>
bat &#x017F;ich für &#x017F;eine un&#x017F;elige Mutter ein Grab, für &#x017F;eine<lb/>
verwai&#x017F;ten Töchter den Schutz des neuen Herr&#x017F;chers:<lb/>
für &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t aber begehrte er Aus&#x017F;to&#x017F;&#x017F;ung aus dem<lb/>
Lande, das er mit doppeltem Frevel be&#x017F;udelt, und Ver¬<lb/>
bannung auf den Berg Cithäron, den &#x017F;chon die Aeltern<lb/>
ihm zum Grabe be&#x017F;timmt hatten, und wo er jetzt leben<lb/>
oder &#x017F;terben wollte, je nach der Götter Willen. Dann<lb/>
verlangte er noch nach &#x017F;einen Töchtern, deren Stimme<lb/>
er noch einmal hören wollte, und legte &#x017F;eine Hand auf<lb/>
ihre un&#x017F;chuldigen Häupter. Den Kreon &#x017F;egnete er für<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[325/0351] die Leiche auf den Boden ſenkte, und, wie ſie nun vor ihm ausgeſtreckt lag, riß er die goldgetriebenen Bruſt¬ ſpangen aus dem Gewande der Frau. Dieſe hob er hoch in der Rechten auf, fluchte ſeinen Augen, daß ſie nimmer ſchauen ſollten, was er that und duldete, und wühlte mit dem ſpitzen Gold in denſelben, bis die Augäpfel durchbohrt waren und ein Blutſtrom aus den Höhlen drang. Dann verlangte er, ihm, dem Geblendeten, das Thor zu öffnen, ihn herauszuführen, ihn dem ganzen Thebanervolk, als den Vatermörder, als den Muttergatten, als einen Fluch des Himmels und ein Scheuſal der Erde vorzuſtellen. Die Diener erfüllten ſein Verlangen, aber das Volk em¬ pfing den einſt ſo geliebten und verehrten Herrſcher nicht mit Abſcheu, ſondern mit innigem Mitleid. Kreon ſelbſt, ſein Schwager, den ſein ungerechter Verdacht gekränkt hatte, eilte herbei, nicht um ihn zu verſpotten, wohl aber um den fluchbelaſteten Mann dem Sonnenlicht und dem Auge des Volkes zu entziehen und ihm dem Kreiſe ſeiner Kinder anzuempfehlen. Den gebeugten Oedipus rührte ſo viel Güte. Er übergab ſeinem Schwager den Thron, den er ſeinen jungen Söhnen aufbewahren ſollte, und er¬ bat ſich für ſeine unſelige Mutter ein Grab, für ſeine verwaiſten Töchter den Schutz des neuen Herrſchers: für ſich ſelbſt aber begehrte er Ausſtoſſung aus dem Lande, das er mit doppeltem Frevel beſudelt, und Ver¬ bannung auf den Berg Cithäron, den ſchon die Aeltern ihm zum Grabe beſtimmt hatten, und wo er jetzt leben oder ſterben wollte, je nach der Götter Willen. Dann verlangte er noch nach ſeinen Töchtern, deren Stimme er noch einmal hören wollte, und legte ſeine Hand auf ihre unſchuldigen Häupter. Den Kreon ſegnete er für

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/351
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/351>, abgerufen am 22.11.2024.