vor Augen. Allmählig aber, je mehr ihres Vaters Bild in die Ferne trat, verlor sich diese Regung; das Verlan¬ gen nach Herrschaft und Königswürde, und mit ihm die Zwietracht erwachte bei ihnen. Polynices, der das Recht der Erstgeburt auf seiner Seite hatte, setzte sich zuerst auf den Thron. Aber Eteokles, der jüngere, nicht zufrieden, abwechslungsweise mit ihm zu herrschen, wie der Bruder vorschlug, verführte das Volk und stieß den älteren Bru¬ der aus dem Lande fort. Dieser, so ging in Thebe das Gerücht, war nach Argos im Peloponnes entflohen, wurde dort der Schwiegersohn des Königes Adrastus, verschaffte sich Freunde und Bundesgenossen, und bedrohte seine Va¬ terstadt mit Eroberung und Rache. Zugleich aber war ein neuer Götterspruch ruchbar geworden, welcher dahin lautete, daß die Söhne des Oedipus ohne ihn selbst nichts vermögen; daß sie ihn suchen müßten, todt oder lebendig, wenn ihr eigenes Heil ihnen lieb wäre.
Dieß waren die Nachrichten, welche Ismene ihrem Vater brachte. Der Chor horchte staunend, und Oedipus hub sich hoch empor von seinem Sitze: "Also steht es mit mir," sprach er, und königliche Hoheit strahlte von dem blinden Angesichte, "bei dem Verbannten, bei dem Bett¬ ler, sucht man Hülfe? Nun, da ich Nichts bin, werde ich erst ein rechter Mann?" "So ist es," fuhr Ismene in ihren Nachrichten fort. "Auch wisse, Vater, daß eben deßwegen unser Oheim Kreon in ganz kurzer Zeit hierher kommen wird, und daß ich mich sehr beeilt habe, ihm zuvor zu kommen. Denn er will dich überreden oder fangen, wegführen und an die Grenzen des thebani¬ schen Gebietes stellen, damit der Orakelspruch sich zu seinen und unsers Bruders Eteokles Gunsten erfülle, und
vor Augen. Allmählig aber, je mehr ihres Vaters Bild in die Ferne trat, verlor ſich dieſe Regung; das Verlan¬ gen nach Herrſchaft und Königswürde, und mit ihm die Zwietracht erwachte bei ihnen. Polynices, der das Recht der Erſtgeburt auf ſeiner Seite hatte, ſetzte ſich zuerſt auf den Thron. Aber Eteokles, der jüngere, nicht zufrieden, abwechslungsweiſe mit ihm zu herrſchen, wie der Bruder vorſchlug, verführte das Volk und ſtieß den älteren Bru¬ der aus dem Lande fort. Dieſer, ſo ging in Thebe das Gerücht, war nach Argos im Peloponnes entflohen, wurde dort der Schwiegerſohn des Königes Adraſtus, verſchaffte ſich Freunde und Bundesgenoſſen, und bedrohte ſeine Va¬ terſtadt mit Eroberung und Rache. Zugleich aber war ein neuer Götterſpruch ruchbar geworden, welcher dahin lautete, daß die Söhne des Oedipus ohne ihn ſelbſt nichts vermögen; daß ſie ihn ſuchen müßten, todt oder lebendig, wenn ihr eigenes Heil ihnen lieb wäre.
Dieß waren die Nachrichten, welche Iſmene ihrem Vater brachte. Der Chor horchte ſtaunend, und Oedipus hub ſich hoch empor von ſeinem Sitze: „Alſo ſteht es mit mir,“ ſprach er, und königliche Hoheit ſtrahlte von dem blinden Angeſichte, „bei dem Verbannten, bei dem Bett¬ ler, ſucht man Hülfe? Nun, da ich Nichts bin, werde ich erſt ein rechter Mann?“ „So iſt es,“ fuhr Iſmene in ihren Nachrichten fort. „Auch wiſſe, Vater, daß eben deßwegen unſer Oheim Kreon in ganz kurzer Zeit hierher kommen wird, und daß ich mich ſehr beeilt habe, ihm zuvor zu kommen. Denn er will dich überreden oder fangen, wegführen und an die Grenzen des thebani¬ ſchen Gebietes ſtellen, damit der Orakelſpruch ſich zu ſeinen und unſers Bruders Eteokles Gunſten erfülle, und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0358"n="332"/>
vor Augen. Allmählig aber, je mehr ihres Vaters Bild<lb/>
in die Ferne trat, verlor ſich dieſe Regung; das Verlan¬<lb/>
gen nach Herrſchaft und Königswürde, und mit ihm die<lb/>
Zwietracht erwachte bei ihnen. Polynices, der das Recht<lb/>
der Erſtgeburt auf ſeiner Seite hatte, ſetzte ſich zuerſt auf<lb/>
den Thron. Aber Eteokles, der jüngere, nicht zufrieden,<lb/>
abwechslungsweiſe mit ihm zu herrſchen, wie der Bruder<lb/>
vorſchlug, verführte das Volk und ſtieß den älteren Bru¬<lb/>
der aus dem Lande fort. Dieſer, ſo ging in Thebe das<lb/>
Gerücht, war nach Argos im Peloponnes entflohen, wurde<lb/>
dort der Schwiegerſohn des Königes Adraſtus, verſchaffte<lb/>ſich Freunde und Bundesgenoſſen, und bedrohte ſeine Va¬<lb/>
terſtadt mit Eroberung und Rache. Zugleich aber war<lb/>
ein neuer Götterſpruch ruchbar geworden, welcher dahin<lb/>
lautete, daß die Söhne des Oedipus ohne ihn ſelbſt nichts<lb/>
vermögen; daß ſie <hirendition="#g">ihn</hi>ſuchen müßten, todt oder lebendig,<lb/>
wenn ihr eigenes Heil ihnen lieb wäre.</p><lb/><p>Dieß waren die Nachrichten, welche Iſmene ihrem<lb/>
Vater brachte. Der Chor horchte ſtaunend, und Oedipus<lb/>
hub ſich hoch empor von ſeinem Sitze: „Alſo ſteht es mit<lb/>
mir,“ſprach er, und königliche Hoheit ſtrahlte von dem<lb/>
blinden Angeſichte, „bei dem Verbannten, bei dem Bett¬<lb/>
ler, ſucht man Hülfe? Nun, da ich Nichts bin, werde<lb/>
ich erſt ein rechter Mann?“„So iſt es,“ fuhr Iſmene<lb/>
in ihren Nachrichten fort. „Auch wiſſe, Vater, daß<lb/>
eben deßwegen unſer Oheim Kreon in ganz kurzer Zeit<lb/>
hierher kommen wird, und daß ich mich ſehr beeilt habe,<lb/>
ihm zuvor zu kommen. Denn er will dich überreden<lb/>
oder fangen, wegführen und an die Grenzen des thebani¬<lb/>ſchen Gebietes ſtellen, damit der Orakelſpruch ſich zu<lb/>ſeinen und unſers Bruders Eteokles Gunſten erfülle, und<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[332/0358]
vor Augen. Allmählig aber, je mehr ihres Vaters Bild
in die Ferne trat, verlor ſich dieſe Regung; das Verlan¬
gen nach Herrſchaft und Königswürde, und mit ihm die
Zwietracht erwachte bei ihnen. Polynices, der das Recht
der Erſtgeburt auf ſeiner Seite hatte, ſetzte ſich zuerſt auf
den Thron. Aber Eteokles, der jüngere, nicht zufrieden,
abwechslungsweiſe mit ihm zu herrſchen, wie der Bruder
vorſchlug, verführte das Volk und ſtieß den älteren Bru¬
der aus dem Lande fort. Dieſer, ſo ging in Thebe das
Gerücht, war nach Argos im Peloponnes entflohen, wurde
dort der Schwiegerſohn des Königes Adraſtus, verſchaffte
ſich Freunde und Bundesgenoſſen, und bedrohte ſeine Va¬
terſtadt mit Eroberung und Rache. Zugleich aber war
ein neuer Götterſpruch ruchbar geworden, welcher dahin
lautete, daß die Söhne des Oedipus ohne ihn ſelbſt nichts
vermögen; daß ſie ihn ſuchen müßten, todt oder lebendig,
wenn ihr eigenes Heil ihnen lieb wäre.
Dieß waren die Nachrichten, welche Iſmene ihrem
Vater brachte. Der Chor horchte ſtaunend, und Oedipus
hub ſich hoch empor von ſeinem Sitze: „Alſo ſteht es mit
mir,“ ſprach er, und königliche Hoheit ſtrahlte von dem
blinden Angeſichte, „bei dem Verbannten, bei dem Bett¬
ler, ſucht man Hülfe? Nun, da ich Nichts bin, werde
ich erſt ein rechter Mann?“ „So iſt es,“ fuhr Iſmene
in ihren Nachrichten fort. „Auch wiſſe, Vater, daß
eben deßwegen unſer Oheim Kreon in ganz kurzer Zeit
hierher kommen wird, und daß ich mich ſehr beeilt habe,
ihm zuvor zu kommen. Denn er will dich überreden
oder fangen, wegführen und an die Grenzen des thebani¬
ſchen Gebietes ſtellen, damit der Orakelſpruch ſich zu
ſeinen und unſers Bruders Eteokles Gunſten erfülle, und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/358>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.